Staatenlosigkeit: Eine multimediale Spurensuche im Medialab
Mikhail Sebastian freute sich auf einen tropischen Kurzurlaub, doch die Reise von Los Angeles in das US-Territorium Samoa wäre beinahe seine letzte gewesen. Denn Sebastian ist staatenlos: Kein Land der Welt erkennt ihn als Bürger an. Als er zurück in die USA einreisen wollte, hieß es, er habe sich selbst abgeschoben. Erst nach mehr als einem Jahr Zwangspause auf Samoa erkämpfte ihm ein Anwalt die Möglichkeit zur Wiedereinreise. Und Sebastian ist kein Einzelfall: Nach Schätzungen des Uno-Flüchtlingshilfswerks sind weltweit mehr als zehn Millionen Menschen staatenlos. Gerade in westlichen Ländern wird das Problem allerdings kaum beachtet. Dabei rechnet das UN-Flüchtlingshilfswerk auch mit 680.000 Staatenlosen in Europa und mehreren tausend in den USA. Die Gründe für Staatenlosigkeit sind vielfältig.
Als sich Jugoslawien und die Sowjetunion auflösten, verloren hunderttausende Menschen ihre Nationalität. Viele haben bis heute Probleme, von den Nachfolgestaaten als Bürger anerkannt zu werden. Zum Teil leben Familien seit Generationen ohne Papiere und Kontakt zu staatlichen Institutionen, wie im Fall vieler betroffener Roma. Auch wenn die Herkunftsländer von Flüchtlingen im Chaos versinken und Belege über Staatsangehörigkeit unaufindbar sind, driften Menschen in einen Zustand von defacto-Staatenlosigkeit. Durch Gesetzeslücken können schon Neugeborene staatenlos werden, beispielsweise wenn ein Elternteil staatenlos ist oder wenn – wie im Fall von Saudi Arabien – Frauen ihre Nationalität nicht an Kinder weitergeben können.
Eines verbindet diese Menschen: Immer wieder werden sie Opfer willkürlicher Diskriminierung. In vielen Fällen bekommen sie keine Arbeitserlaubnis und keinen Pass. Sie werden an Grenzen festgehalten, im schlimmsten Fall sitzen Betroffene jahrelang in Abschiebehaft.
Berichterstattung ist lückenhaft
In der Medienberichterstattung ist das Thema Staatenlosigkeit kaum präsent und die Hürde sich damit zu befassen ist hoch. Die Gesetzeslage ist komplex und unterscheidet sich im Ländervergleich drastisch. Außerdem spiegeln die Vorschriften längst nicht immer die tatsächliche Lebenswirklichkeit der Betroffenen wieder. Aus Angst vor Abschiebung oder Haft trauen sich viele Staatenlose nicht an die Öffentlichkeit. Sie bleiben verborgen und verletzlich.
Wir wollen die Schicksale von Staatenlosen und die rechtliche Problematik einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Doch das ist leichter gesagt, als getan. Denn Staatenlosigkeit ist ein transnationales Thema, dem wir uns länderübergreifend nähern müssen. Wir werden durch Europa reisen, mit Kollegen aus anderen Ländern zusammenarbeiten und Betroffenen die Möglichkeit geben, über eine Internetplattform mit uns in Austausch zu treten.
Newsweek-Fotoredakteur Shaminder Dulai und der freie Journalist und Medienberater Moises Mendoza suchen nach Fällen in den USA und Mittelamerika. Eine erste Reportage Mendozas über Mikhail Sebastian ist bereits in der „Global Post“ erschienen.
Medialab bietet Chancen
Doch die Kosten dieses aufwendigen Projekts können wir durch Veröffentlichungen allein kaum refinanzieren. Deshalb haben wir uns auf ein Fellowship des Medialabs beworben. Den finanziellen Zuschuss werden wir überwiegend für den Aufbau der Internet-Plattform „statelessness in the west“ verwenden und zu einem kleineren Teil für Reisekosten. Außerdem können wir im Medialab auf die Expertise erfahrener Online- und Datenjournalisten aus dem Vocer-Netzwerk zurückgreifen, zum Beispiel von OpenDataCity. Besonders davon versprechen wir uns viel.
Ein wachsendes digitales Archiv
Moderner, fortschrittlicher Journalismus zeichnet sich in unseren Augen wesentlich durch Transparenz bei der Recherche, den flexiblen Einsatz von Schrift, Audio, Video und Foto, sowie die Einbeziehung der Leser aus. Auf der Online-Plattform „statelessness in the west“ und in sozialen Netzwerken werden wir deshalb laufend über die Fortschritte unserer Recherchen berichten. Außerdem werden wir auf der Seite Geschichten verknüpfen und Beiträge multimedial aufbereiten, die zum Beispiel als Artikel, Fotoserie, Radio- oder Fernsehbeitrag in verschiedenen Medien erschienen sind. Über die Zeit soll sich die „statelessness in the west“ so zu einem wachsenden Archiv von Geschichten zum Thema Staatenlosigkeit entwickeln.
Interaktion mit den Betroffenen
Ergänzende Informationen und Hintergründe sind nur einen Klick entfernt – zum Beispiel Gerichtsdokumente, Gesetze und Verordnungen, oder Datenquellen. Über die Seite können Leser aktiv werden, auf Inhalte reagieren und sie weitertragen, Informationen anfordern, Kontakt zu Anwälten oder Organisationen aufnehmen oder über Social Media ihre eigene Geschichte einbringen. Im besten Fall entsteht so über den Projektzeitraum im Jahr 2014 hinaus eine wachsende Autorenschaft und Community, die das Thema begleitet und auf die Agenda setzt.