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Stateless Voices: Ein Leben lang staatenlos

Staatsangehörigkeit ist eine der grundlegenden Kategorien in unserer Gesellschaft. Von ihr hängt ab, wer in welche Länder reisen und sich in ihnen niederlassen kann, wer Zugang zu Ausbildung und Arbeit bekommt, zu Krankenversicherung und zu staatlichem Schutz. Aber was geschieht mit Menschen, die kein Staat als Bürger anerkennt? Wir haben Staatenlose in Europa und den USA begleitet.

Tarnobrzeg, Polen. Marek mustert uns aufmerksam, dann sagt er etwas auf Polnisch. Wir blicken zu unserem Übersetzer Tomek, der aus Warschau angereist ist, um uns in der ostpolnischen Provinz sprachlich zu unterstützen. „Marek sagt, ihr seid noch jung. Ihr habt euch ein schwieriges Thema ausgesucht.“ Angespannte Blicke: Ist das als Aufmunterung gemeint? Oder ist es Missbilligung? Wir sind zwölf Stunden nach Tarnobrzeg gefahren, mit einem Kameramann auf dem Rücksitz und einem Kofferraum voll gemietetem Film-Equipment. Ein bisschen zu spät zum Scheitern.

Also erzählen wir noch einmal die ganze Geschichte: von Recherchen zu sozialrechtlichen Themen. Wir berichten von unserem Treffen mit dem Staatenlosen Thomas in Athen, der mehrere Jahrzehnte um einen griechischen Pass kämpfen musste – und von unserem Treffen mit Said, der zwei Jahre durch Darmstadt streifte, ohne eine Idee, wie er seiner Staatenlosigkeit entrinnen könnte. Marek schaut zu seiner Frau Elzbieta und zu seiner Pflegetochter Maria. Dann sagt er die erlösenden Worte: „Ich werde euch unsere Geschichte erzählen!“

Vertrauen ist der Schlüssel

Das Staatenlos-Team bei den Dreharbeiten.

Das „Stateless Voices“-Team bei den Dreharbeiten. (Foto: Röler)

Maria wurde nach der Geburt von ihrer Mutter im Krankenhaus zurückgelassen. Mit etwas mehr als zwei Jahren kam sie zu einer Pflegefamilie: Zu Marek und Elzbieta Rutyna. Die Pflegeeltern nahmen sie wie eine eigene Tochter auf – doch für sie begann damit auch ein langanhaltendes juristisches Gezerre. Marias leibliche Mutter war nach der Geburt verschwunden, hatte aber angegeben, Rumänin zu sein. Der Vater war unbekannt. In Polen richtet sich die Staatsbürgerschaft nach Abstammung – für das vermeintlich rumänische Kind fühlten sich die Behörden nicht zuständig. Maria bekam keinen polnischen Pass. Im rumänischen Geburtenregister wurde sie aber auch nie eingetragen, die Mutter ist unauffindbar. Folglich akzeptiert kein Staat das kleine Mädchen als Staatsbürgerin.

15 Jahre mussten Marek und Elzbieta um Marias Einbürgerung kämpfen. „Es war, als würde man mit einem Kopf gegen eine Wand schlagen“, erzählt uns Marek. Erst in diesem August, mit 17 Jahren, erhielt Maria die polnische Staatsbürgerschaft per präsidentiellem Dekret – nachdem die Anwälte einer Stiftung und polnische Medien Druck auf Politik und Verwaltung ausgeübt hatten.

In Mareks Fall hat die Berichterstattung womöglich geholfen, die Situation von Maria zu verbessern. Dennoch eint die Staatenlosen, die wir treffen, die Angst, dass ein unbedachter Schritt in die Öffentlichkeit ihre Situation verschlechtert. In den Jahren, in denen sie und ihre Familien um eine Staatsangehörigkeit kämpften, sind viele aus gutem Grund misstrauisch geworden.

Recherche unter Rechtsexperten

Unsere Suche nach Staatenlosen begannen wir top-down und wandten uns zunächst an das Uno-Flüchtlingshilfswerk, Pro Asyl und verschiedene Rechtshilfeorganisationen in Europa. Besonders hilfreich war ein Treffen mit Chris Nash vom European Network on Statelessness. In dem Netzwerk haben sich europaweit Anwälte und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen zusammengeschlossen, die mit dem Thema Staatenlosigkeit zu tun haben. Chris Nash vermittelte uns den Kontakt zu einer Anwältin der Helsinki Foundation for Human Rights in Warschau. Von ihr hörten wir zum ersten Mal von Maria. Auf einer ENS-Tagung in Straßburg knüpften wir außerdem die ersten Kontakte in andere Länder, zum Beispiel zu Erika Kalantzi, einer Anwältin in Griechenland, die uns dort bei der Recherche unterstützte.

Vor allem in Deutschland kamen wir aber lange nicht voran. Bis uns schließlich ein Zufall zugute kam. Ein Freund war in Darmstadt einem jungen Mann begegnet, der erzählt hatte, er sei staatenlos. Über eine Bekannte, die als Helferin bei Amnesty International arbeitet, stellte er den Kontakt her. So stießen wir auf Said, der Syrien verlassen hatte und wegen des Bürgerkrieges nicht zurückkehren kann.

Bei unseren Treffen dokumentierten wir die Erzählungen von Said, Maria und Thomas akribisch, der rechtliche Hintergrund war in allen Fällen äußerst komplex und je nach Gesetzeslage in den verschiedenen Ländern unterschiedlich. Wir prüften Dokumente von Behörden und Gerichten und arbeiteten die Fälle im Anschluss noch einmal mit Juristen durch.

Aufwendige Produktionen

Bei der Umsetzung der Beiträge aber versuchten wir, den Gesetzestexten und Normen einen Platz im Hintergrund zuzuweisen. Denn die rechtlichen Fakten können nur unzureichend die Geschichte der Staatenlosigkeit erzählen. Uns ist wichtig zu zeigen, wie stark die psychische Belastung ist, wenn man als Mensch nirgendwo hingehört. Auf statelessvoices.com wollen wir Staatenlosen eine Stimme geben und den Raum, ihre Geschichten zu erzählen.

Für unsere Reportagen arbeiteten wir mit dem Fotografen Torben Weiß und dem Kameramann Tom Rölecke zusammen. Die Tonaufnahmen übernahmen wir selbst, wie später auch teilweise den Schnitt. In mehreren Tagen mit unseren Protagonisten entstanden Audio-Foto-Slideshows und Videofilme, die in erster Linie die Emotionen der Staatenlosen nachvollziehbar machen sollen.

Postproduktion

Staatenlos-Logo (Credit: Philipp Gieseler, DIE BRUeDER)

Staatenlos-Logo (Credit: Philipp Gieseler, DIE BRUeDER)

Seit einigen Wochen nun sind wir in der Postproduktion. Die Videos sind größtenteils geschnitten, den Texten fehlt noch der Feinschliff. Wir haben von Philipp Gieseler, Grafiker bei Die Brueder, ein einheitliches Design für alle Videos und Texte entwerfen lassen und auf Basis eines WordPress-Themes mit verhältnismäßig geringem Aufwand ein Gerüst für die Websites aufgebaut. Die Entscheidung für das Content-Management-System und gegen die voll flexible Programmierung fiel vor allem, um unabhängig voneinander an Artikeln und Übersetzungen arbeiten zu können und diese zugleich an einem Ort zusammenzuführen. Das ist besonders wichtig, da wir unsere Arbeit ständig mit unseren beiden Kollegen Shaminder Dulai und Moises Mendoza in den USA koordinieren müssen. Sie haben Fälle von Staatenlosigkeit in Amerika dokumentiert, die sich mit unseren europäischen Beiträgen zu einem Mosaik der Staatenlosigkeit in der westlichen Welt fügen sollen.

Unser Medialab-Mentor Marco Maas berät uns in dem Prozess der Postproduktion und sucht mit uns nach Wegen, Video, Foto und Text möglichst optimal zu verzahnen. Zudem gilt es, den Geschichten eine übergeordnete Dramaturgie zu geben. Um die umfassenden Auswirkungen von Staatenlosigkeit auf das Leben von Menschen abzubilden, haben wir entschieden, die einzelnen Beiträge nach dem Lebensalter der Protagonisten zu ordnen. Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter – so entsteht auf www.statelessvoices.com ein Lebenszyklus der Staatenlosigkeit.


„Stateless Voices“ wird vom VOCER Innovation Medialab gefördert.