Stateless Voices: Sieben Fragen zum Finale
Im Rahmen ihres Stipendiums im VOCER Innovation Medialab haben Urs Spindler und Arne Schulz nach Staatenlosen gesucht und ihre Geschichten erzählt. Nun ist die Förderung durch VOCER abgeschlossen. Wie das Projekt Stateless Voices abgelaufen ist und was daraus wird, haben sie im Selbst-Interview beantwortet.
VOCER: Ihr habt monatelang die Situation von Menschen ohne Staatsangehörigkeit in Europa und den USA recherchiert. Was ist das größte Problem, mit dem Staatenlose in der westlichen Welt zu kämpfen haben?
Eines vorweg: Die rechtliche Lage der Staatenlosen ist von Land zu Land verschieden. Und die Ursachen, wegen denen Menschen staatenlosen werden, sind vielfältig. Manche „erben“ das Problem von ihren Eltern, manche gehören ethnischen Minderheiten an, die seit langem staatenlos sind. Manche waren fern der Heimat, als das Herkunftsland sich auflöste und konnten deshalb für den Nachfolgestaat keinen Pass beantragen. Das war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein großes Problem.
Was die meisten Staatenlosen gemeinsam haben: Sie fühlen sich hilflos und sind mit der komplexen Gesetzeslage in dem Land, in dem sie sich aufhalten, oft überfordert. Die wenigsten verstehen ihre Situation, geschweige denn, dass sie einen Ausweg kennen. Deshalb fordern Rechtshilfeorganisationen Staaten in Europa auf, den Staatenlosen auf dem Weg zur Anerkennung zu helfen und ihnen Schutzrechte zu gewähren. Gesetzlich sind solche Rechte in vielen Staaten der EU verankert, praktisch jedoch gibt es meist niemanden auf behördlicher Seite, der den Betroffenen erklärt, wie sie ihre Rechte geltend machen können. In den USA ist die Situation noch wesentlich aussichtsloser. Dort gibt es für Staatenlose keine Möglichkeit, die US-Staatsbürgerschaft zu erhalten, außer durch einen politischen Gnadenakt.
Ihr habt insgesamt sechs Staatenlose porträtiert, wart für eure Recherchen in den USA, auf Samoa, in Griechenland, Belgien, Frankreich, Polen und Deutschland unterwegs. Wie seid ihr auf eure Protagonisten gestoßen?
In den USA und auf Samoa haben unsere beiden US-Kollegen Moises Mendoza und Shaminder Dulai recherchiert. Wir haben den europäischen Part des Projekts übernommen. Moises hatte vor einigen Jahren den Staatenlosen Mikhail Sebastian kennengelernt und war empört, dass es in einem westlichen Staat Menschen gibt, die in einem Schwebezustand gefangen sind, ohne ein Land, dass sie als Bürger anerkennt. Urs und Moises sind seit einem gemeinsamen Praktikum bei der FAZ befreundet und wir alle haben schön öfter zu den Themen Asyl und Migration gearbeitet. So kam die Idee zu dem transatlantischen Projekt.
Im vergangenen Jahr haben wir dann begonnen, nach Fällen in Europa zu suchen. Das war schwierig, trotz der großen Anzahl an Staatenlosen in Europa. UNHCR geht von 600.000 aus. Allerdings trauen sich die wenigsten Staatenlosen, vor eine Kamera zu treten oder ihre Identität in der Presse preiszugeben. Sie fürchten, dass es ihnen Nachteile bringen könnte, wenn sie wieder mit Behörden zu tun haben oder in einem laufenden Anerkennungs- oder Einbürgerungsverfahren. Teilweise sind wir durch Zufall auf unsere Protagonisten gestoßen, teilweise stellten Hilfsorganisationen wie die Helsinki Foundation for Human Rights in Warschau den Kontakt her. Eine große Hilfe war Chris Nash und sein European Network on Statelessness.
Wir haben in langen Gesprächen das Vertrauen der Betroffenen gewonnen und mehrere Tage mit ihnen verbracht. Wir haben unseren Gesprächspartnern klar gemacht, dass eine Veröffentlichung ihnen und anderen Betroffenen helfen kann. Und dass wir keine Anklage gegen ausführende lokale Behörden führen wollen, auf deren Kooperationsbereitschaft die Staatenlosen angewiesen sind, sondern dass wir herausarbeiten werden, dass die Lösungen auf nationalstaatlicher und internationaler Ebene zu suchen sind.
Welche Geschichte hat euch am Meisten bewegt?
Die Geschichte von Maria aus Polen, die direkt nach der Geburt staatenlos wurde. Schuld war eine Gesetzeslücke in Polen, durch die Kinder staatenlos werden können, wenn bestimmte ungünstige Umstände zusammentreffen. Maria wurde von ihrer Mutter im Krankenhaus zurückgelassen und schließlich von den Pflegeeltern Marek und Elzbieta Rutyna aufgenommen. Die beiden kämpften dann 17 Jahre lang um einen polnischen Pass für ihre Tochter. Marek arbeitete in dieser Zeit auf Baustellen im Ausland, in Deutschland, auf Zypern und in Großbritannien. Maria aber hatte keinen Pass und konnte ihn nie besuchen. Aus Solidarität blieb auch Elzbieta zuhause in Polen. Die Familie konnte deshalb nur wenige Wochen im Jahr zusammen verbringen. Erst im August 2014, nach jahrelangen erfolglosen Bemühungen, bekam Maria doch noch die polnische Staatsbürgerschaft – per Dekret des polnischen Präsidenten. Für sie war das natürlich die Rettung, letztlich ist es aber wieder nur eine Einzelfallentscheidung. Marias Fall kann sich jederzeit wiederholen.
Wo habt ihr die Ergebnisse eurer Recherchen bislang veröffentlichen können?
Wir haben eine Serie mit mehreren Porträts und einem Experteninterview in der taz veröffentlicht: „Die Bürger von Nirgendwo“ waren im Herbst Titelthema. In den USA erschienen die Geschichten im Online-Magazin Global Post, eine Geschichte wird noch bei Newsweek erscheinen. Zudem liefen die Ergebnisse unserer Recherchen als 20-minütiges Radiofeature auf NDR Info. Zusammengeführt haben wir alle Geschichten auf der multimedialen Plattform statelessvoices.com. Dort sind auch unsere Filme zu dem Thema erschienen. Leider ist es bislang nicht geglückt, für die Filme einen weiteren Abnehmer zu finden, obwohl sie sehr aufwendig und auf Profi-Level produziert sind. Wer Interesse hat, gerne bei uns melden!
Wie war das Feedback auf eure Veröffentlichungen?
Die Rückmeldungen waren sehr positiv. Wir haben Mails von Lesern der taz bekommen, die von ihren eigenen Erfahrungen mit Staatenlosigkeit berichtet haben. Vor allem aber hat die Website Reaktionen hervorgerufen. Über das Kontaktformular haben sich bereits zwei weitere Staatenlose gemeldet, aus Deutschland und Schweden, die uns ihre Geschichten geschildert haben. Eine Journalistin aus Australien hat uns geschrieben und ihre Mitarbeit an dem Projekt angeboten. Das war durchaus überraschend, weil hinter der Website nur wir vier stehen und kein Massenmedium mit hunderttausenden Lesern. Es liegt wohl daran, dass Staatenlosigkeit ein „vergessenes Thema“ ist, wie einige Experten sagen. Wenige Journalisten setzen sich mit der komplexen Thematik intensiv auseinander, man findet kaum fundierte Informationen im Internet. Wir hoffen, dass wir mit unserem Projekt diese Informationslücke zumindest ein wenig schließen konnten.
Wie geht es in diesem Jahr weiter mit dem Projekt?
Ein weiteres Radiofeature für NDR Info ist in Planung, diesmal 55 Minuten. Wir planen zudem, in den kommenden Monaten weitere Beiträge auf Stateless Voices zu veröffentlichen und wir verfolgen die politische Diskussion zu dem Thema. Ein wichtiger Schritt ist noch, die englischsprachige Website auf Deutsch zu übersetzen. Auch wenn in den kommenden Monaten andere Aufgaben wieder stärker im Fokus stehen werden – das Thema Staatenlosigkeit wird uns weiterhin begleiten.
Welche Tipps könnt ihr Interessenten für das VOCER Medialab mit auf den Weg geben?
Nutzt die Chance, macht etwas, für das ihr wirklich brennt! 3000 Euro sind nicht viel Geld, wenn man monatelang mit mehreren Personen an einem Projekt arbeitet. Aber es reicht, um eine Zeit lang ohne Verwertungsdruck recherchieren und probieren zu können – und es ist ein Anreiz, um ein großes Vorhaben zu starten. Das Mentorenprogramm ist hilfreich – Marco Maas konnte uns einige wertvolle Impulse geben und hat für uns Kontakte hergestellt, die auch bei zukünftigen Recherchen von Wert sein können. Über VOCER haben wir zudem eine Reihe spannender Projekte von anderen jungen Journalisten kennengelernt, was inspirierend war.
Wunderdinge solltet ihr aber auch nicht von dem Förderprogramm erwarten. Ohne Eigeninitiative und ohne unsere schon bestehenden Kontakte zur taz und zum NDR wäre die Verwertung des Themas, das leider in aller Regel unter dem Nachrichtenradar läuft, äußerst schwierig geworden.
„Stateless Voices“ wurde vom VOCER Innovation Medialab mit Unterstützung der Otto-Brenner-Stiftung gefördert.