Tiefgreifender Informationsprozess
Als ARD und ZDF 1980 den Videotext einführten, rauschte es gewaltig im deutschen Blätterwald: Texte im Fernsehen – das konnte, das durfte nicht sein! Ähnliches erleben wir heute, mehr als 30 Jahre später, bei Ankündigungen von (mobilen) Internetangeboten der Öffentlich-Rechtlichen. Doch das Untergangsgeschrei von damals unterscheidet sich in einem entscheidenden Punkt: Heute steckt die gesamte Medienbranche mitten in einem tiefgreifenden Transformationsprozess – öffentlich-rechtliche und private Sender sind ebenso wie Verlage davon betroffen.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und damit auch die journalistischen Angebote, die wir produzieren, unterliegen – entgegen anders lautender Berichte – natürlich ebenso ökonomischen Zwängen wie andere Medien auch. Aber trotz Einsparungen ermöglicht das Gebührenprivileg (ich empfinde es tatsächlich als eines) einen Journalismus, den ich angesichts von Digitalisierung und Wandel in der Mediennutzung für unverzichtbar halte. Einen Journalismus, der unabhängig, relevant und um Objektivität bemüht ist.
Was ist Journalismus? Der Autor Walther von La Roche, der einer der renommiertesten Journalistenausbilder in Deutschland war, definierte das Berufsbild innerhalb der verschiedenen Medien anhand der Tätigkeiten Recherchieren und Dokumentieren, Formulieren und Redigieren, Präsentieren, Organisieren und Planen. Ob in Print, Hörfunk, Fernsehen oder Online – all diese Tätigkeiten zeichnen professionellen Journalismus aus. Umgekehrt: Ohne diese Tätigkeiten ist eine Veröffentlichung kein journalistisches Produkt.
„Das Internet ist anders“
Die Krise der Medienbranche wird häufig mit der steigenden Nutzung des Internet verknüpft. Abgesehen von angeblich fehlenden Geschäfts- und Refinanzierungsmodellen wird beklagt, dass die Rolle des professionellen Journalisten in Zeiten, in denen Jede(r) ohne größere technische und finanzielle Hürden Inhalte veröffentlichen und verbreiten könne, überflüssig sei.
Richtig ist: „Das Internet ist anders“, wie Journalisten-Kollegen in einem „Internet-Manifest“ im September 2009 schreiben. „Es schafft andere Öffentlichkeiten, andere Austauschverhältnisse und andere Kulturtechniken. Die Medien müssen ihre Arbeitsweise der technologischen Realität anpassen, statt sie zu ignorieren oder zu bekämpfen. Sie haben die Pflicht, auf Basis der zur Verfügung stehenden Technik den bestmöglichen Journalismus zu entwickeln – das schließt neue journalistische Produkte und Methoden mit ein.
„Dass das Internet den Journalismus verbessere, wie die Unterzeichner des Manifests behaupten, ist umstritten. Schon 2007 konstatieren die beiden Onlinejournalisten Steffen Range und Roland Schweins in der sehr lesenswerten und noch immer aktuellen Studie „Klicks, Quoten, Reizwörter: Nachrichtensites im Internet. Wie das Web den Journalismus verändert“: „Krawall- und Sensationsjournalismus und seichte Unterhaltung haben die auf Seriosität bedachte unaufgeregte Berichterstattung in den Hintergrund gedrängt. Boulevard und Information sind im Netz ein Bündnis eingegangen.“ Und: „Der Gegensatz von Information ist nicht Unterhaltung, sondern Manipulation und Fälschung. Doch wenn selbst Nachrichten, Faktenwissen und Börsenkurse einem Primat der Unterhaltung unterworfen werden, befindet sich der Qualitäts-Journalismus alter Schule in ernster Gefahr.“
Und weiter: „Gemessen an den strengen Kriterien an Qualitäts-Journalismus, die Verleger und Chefredakteure selber aufgestellt haben, versagen die meisten ihrer Nachrichten-Sites. Kennzeichen des tatsächlich vorherrschenden Nachrichten-Journalismus sind Zweitverwertung, Agenturhörigkeit, Holzschnittartigkeit, Eindimensionalität und Einfallslosigkeit.“
Was hier kritisiert wird, gilt nicht nur für die Berichterstattung im Internet. Selten habe ich – auch in so genannten Qualitätszeitungen – so viel Einseitigkeit, Mangel an Recherche und Meinungsmache gesehen, wie im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Internetaktivitäten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Da wird beispielsweise der angeblich ungezügelte Ausbau von deren Onlineangebot beklagt und als Beleg werden Investitionen für die digitalen TV-Kanäle ins Feld geführt – sachlich etwas ganz anderes.
Meinungen statt Fakten
Aber auch das ist keine neue Entwicklung im Journalismus. Schon 1984 schreibt Wolf Schneider: „Die Abwesenheit von Lüge ist ohne Zweifel die wichtigste Voraussetzung für sachgerechten Journalismus; gleichbedeutend mit der Anwesenheit von Wahrheit ist sie nicht. Der Autor einer Nachricht schwebt ständig in der Versuchung, mit nachweislich zutreffenden Fakten so zu hantieren, daß nicht in erster Linie diese Fakten, sondern die Meinung zum Ausdruck kommt.“
Meinungen statt Fakten – eine Tendenz im Journalismus, die möglicherweise dadurch verstärkt wird, dass keine Zeit für die Recherche der Fakten bleibt. Eine Meinung hat Jede(r) und Recherche ist oft langwierig und zeitaufwändig.
Eine weitere Entwicklung: Schnelligkeit wird mehr und mehr zum wichtigsten Qualitätsmerkmal im (Nachrichten-)Journalismus. „Be first, but first be right“, lautet ein alter Agenturspruch – häufig wird davon nur noch der erste Satzteil beherzigt, nicht nur, aber eben oft im Onlinejournalismus.
Range und Schweins stellen fest: „Dieser Zwang zur Aktualität wirft viele Probleme auf. Was geschrieben wurde, geht oftmals online, ohne dass zuvor noch einmal ein Chef vom Dienst oder ein Redakteurskollege einen Blick darauf wirft. Gelegentlich werden Agenturmeldungen ohne Bearbeitung übernommen.“
Hauptsache Schnelligkeit
Wenn wir so weitermachen, also Schnelligkeit zum wichtigsten Qualitätskriterium des Journalismus machen, verspielen wir eine der wichtigsten Tugenden, die professionellen Journalismus ausmacht: Glaubwürdigkeit. Die Authentizität der Nachricht, die nachprüfbare Recherche ist für den Medienkonsumenten angesichts der ungeheuren Flut an Informationen von großer, von wachsender Bedeutung. Aber auch die Verlässlichkeit der Person, die die Nachricht vermittelt, wird für den Leser, Zuschauer oder Hörer immer wichtiger. Wenn dies zutrifft, können wir dann Nachrichten Glauben schenken, die über Twitter oder Facebook übermittelt werden?
Vor einiger Zeiten unterzogen sich fünf französischsprachige Journalisten eine Woche lang einem Experiment. Sie lebten abgeschieden auf einem Bauernhof in Südwestfrankreich und informierten sich im Internet lediglich über die beiden derzeit erfolgreichsten, weil reichweitenstärksten, sozialen Netzwerke. Höhepunkt der Berichterstattung während des Versuchs: eine Welle sich widersprechender Facebook- und Twitter-Meldungen, weil ein Flugzeug die Schallmauer durchbrochen hatte: Nutzer berichteten über den Absturz oder spekulierten über Atomwaffen an Bord der Maschine. Die Auflösung brachte dann die auf Twitter kopierte Meldung der Onlineausgabe einer Zeitung.
Der Journalist als Verbreitungsweg
Ein anderes Beispiel, das nicht das Gegenteil – also die Verlässlichkeit der Information aus dem Netz – belegen soll, das aber die Nützlichkeit von Internetquellen für Journalisten zeigt: Ohne die Tweets oder YouTube-Videos der iranischen Oppositionellen wäre deren Protest gegen die Präsidentschaftswahl niemals in dem gezeigten Ausmaß in den westlichen Medien thematisiert worden. Zwar waren neben bloggenden Oppositionellen auch der iranische Geheimdienst und die Regierung im Netz aktiv, was die Recherche um die Echtheit der Information erheblich erschwerte – dennoch sollte eine Vielzahl von Quellen in der Regel zu einer besseren Berichterstattung führen als einige wenige.
Was will ich mit diesen Beispielen sagen? Journalisten müssen sich heute und in Zukunft des Internets bedienen: als Quelle, als Verbreitungsweg und als Mittel zum Dialog mit Nutzern. Das ist anstrengend. Unter anderem deshalb, weil die traditionellen Quellen, also Nachrichtenagenturen, Zeitungen oder die eigenen Korrespondenten, ihre Berichterstattung nicht in dem Maße verringern, in dem im Internet zusätzliche Quellen zur Verfügung stehen, sondern die Masse der Informationen noch steigern. Der Journalist muss demzufolge immer mehr Quellen sichten und bewerten und hat dafür immer weniger Zeit.
Einige Journalisten bezweifeln, dass eine ständige und systematische Beschäftigung mit vielen unterschiedlichen Quellen und Medien sinnvoll ist. Frank Schirrmacher bezieht sich in seinem Buch „Payback“ auf eine Studie des Stanford-Forschers Clifford Nass, die besagt, dass Menschen, die dem „Medien-Multitasking“ (dem gleichzeitigen Nutzen von mobilem oder stationärem Internet, TV und anderen Medien) intensiv nachgehen, weniger auswählen, nicht mehr zwischen Wichtigem und Unwichtigem entscheiden könnten und häufiger auf „falschen Alarm“ reagieren, mithin ineffizienter würden.
Ausschalten, wegzappen ignorieren?
Zugegeben, für den Journalisten heutzutage und in der Zukunft wird es bei der Vielzahl von Quellen und Input immer schwieriger, den Überblick zu behalten. Doch was wäre die Alternative? Ausschalten, wegzappen, ignorieren?
Eine wesentliche Aufgabe des Journalisten besteht darin, auszuwählen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, Komplexität zu reduzieren, einzuordnen und Orientierung zu geben. Die Aufgabe von Journalismus ist es, dem Mediennutzer einen Weg durch den Informations-Dschungel zu schlagen, in dem dieser sich sonst verlaufen würde. Der Journalist sollte dabei ein „trusted guide“, ein vertrauensvoller Führer sein. Wenn Journalisten diese Funktion erfüllen, erhöhen sie die eigene Glaubwürdigkeit und tragen zu einem zukunftsfähigen und besseren Journalismus bei.
„Wozu Journalisten?“ fragte die Akademie für Publizistik im vergangenen Jahr in ihrem Journalisten-Wettbewerb. Die mit dem ersten Preis ausgezeichnete Kollegin beantwortete die Frage am Ende ihres Beitrags so: „Wir brauchen keine Journalisten. Wir brauchen gute Journalisten. Solche, die es versuchen.“
Ursprünglich ist dieses Essay als Teil der „SZ“-Reihe „Wozu noch Journalismus“ erschienen, die auch als Buch erhältlich ist. VOCER veröffentlicht ausgewählte Beiträge in teils leicht aktualisierter Form.