Und jetzt wieder zurück zum Thema!
Es gibt Momente, in denen muss ich entweder in den Wald gehen für eine Runde Schrei-Therapie oder sie aufschreiben. Und der nächste Wald ist gerade etwas weit weg. Ergo: dieser Text. Entstanden aus Frustration über die Sexismus-Debatte, die seit der vergangenen Woche geführt wird – oder vielmehr darüber, wie sie geführt wird.
Wer es noch nicht mitbekommen hat: Die auf „Spiegel Online“ für die Berichterstattung über die Piratenpartei zuständige Journalistin Annett Meiritz schreibt im „Spiegel“ über Verleumdung ihrer Person als „Prostituierte“ und das Gerücht aus Reihen der Partei, sie gelange an Insider-Informationen, weil sie mit einem Piraten schlafe. In gewisser Weise dürfte sie damit den Weg geebnet haben für einen weiteren Bericht über Sexismus im Politikbetrieb: In dieser Woche nämlich thematisierte „Stern“-Autorin Laura Himmelreich in einem längeren Porträt das Fehlverhalten von FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle. Sie beschrieb unter anderem die Situation, wie sich der Politiker ihr bei einem abendlichen Gespräch an einer Hotelbar angenähert habe.
Das Thema ist auf dem Tisch. Die Debatte läuft zwischen auf der einen Seite Menschen, die den beiden Frauen beipflichten, sie für ihre Veröffentlichungen preisen oder gar ähnliche Erfahrungen gemacht haben – und auf der anderen Seite jenen, die Frau Himmelreich und den „Stern“ ins Zentrum der Diskussion zu rücken versuchen, Motive hinterfragen und das eigentliche Thema dabei weit in den Hintergrund schieben.
Agenda hin oder her
Hat der „Stern“ eine politische und eine wirtschaftliche (= auf Verkauf von Heften orientierte) Agenda? Auf jeden Fall. Ist das Timing merkwürdig? (Schließlich wurde Brüderle just zum Spitzenkandidat seiner Partei bei der anstehenden Bundestageswahl auserkoren.) Aber sicher! Darf man die Arbeitsweise der Journalistin hinterfragen? Ja, auch das! Macht es etwas stutzig, dass Laura Himmelreich einen Vorfall, der ein Jahr zurückliegt, erst jetzt öffentlich macht? Meinetwegen auch das. Aber nicht, weil der Artikel nun fürs kritische Publikum ein Geschmäckle hat und nach Kampagnenjournalismus riecht. Wundern sollte man sich viel mehr, warum sie erst jetzt den Mund aufgemacht hat. Womöglich weil Sexismus „immer noch derart salonfähig (ist), dass die Frau, die ihn öffentlich macht, im Zentrum der Kritik steht“ („Stuttgarter Zeitung„) und sich – das allerdings jetzt pure Spekulation – nicht eher traute.
Ich weiß nicht, was bei der Arbeit an diesem Artikel in der Redaktion passierte. Vielleicht wollte Laura Himmelreich viel früher darüber berichten. Vielleicht hat sie aus Sorge vor genau den Kommentaren, denen sie nun ausgesetzt ist, geschwiegen. Vielleicht gab es Druck von oben, nicht darüber zu schreiben. Oder im Gegenteil. Vielleicht ist es eine gezielte Kampagne. Vielleicht der Versuch, mit den Konkurrenten vom „Spiegel“ gleichzuziehen. Am Ende ist das alles – mit Verlaub – scheißegal.
Denn worum es geht und woran sich auch nichts ändert, wenn Brüderle nicht Wort für Wort das sagte, was der „Stern“ berichtet, ist die Sache an sich: Sexismus, unerwünschte Annäherungen, Belästigung. Um die Tatsache, dass eine Journalistin – wobei die Profession vollkommen egal ist – sich in einem professionellen Umfeld einer solchen Belästigung ausgesetzt fühlt. Und dass im Berufsleben mit solchen Situationen ja noch lange nicht Schluss ist.
Stopp!
Wütender als das peinliche Verhalten des Rainer Brüderle und die Selbstdemontage der Politiker, die sich gerade lautstark auf seine Seite stellen, macht mich, wie viele Berichterstatter und Kommentatoren ablenken von dieser eigentlichen Diskussion. Wenn Berichte ausmachen, „der wahre Loser in dieser Debatte“ sei der „Stern“ („Meedia„) und dessen Berichterstattung sei „näher an der Denunziation als an seriösem Journalismus“ („Kölner Stadt-Anzeiger„). Ganz zu schweigen übrigens davon, wie die beiden Journalistinnen als überempfindlich und kleinlich dargestellt werden. Wie die von Laura Himmelreich beschriebene Situation abgetan und das Opfer zur Täterin umgedichtet wird.
„In der Geschichte um Rainer Brüderle geht es nicht um Rainer Brüderle.“ Es geht auch nicht um die Liberalen. Oder Wahlkampf. Genauso wenig geht es um die Frage, ob der „Stern“, „Stern.de“ und die beteiligten Redakteure sich journalistisch korrekt verhalten haben. Das darf man alles thematisieren, aber doch bitte nicht auf Kosten eines Themas, über das wir hier eigentlich reden müssen. Und der Ruf nach einer Debatte um alltäglichen Sexismus darf sich auch keinesfalls ersticken lassen, weil die Rufenden in Fotostrecken und auf Titelseiten parallel weiter ihren ganz eigenen medialen Sexismus pflegen.
In diesem Sinne bin ich sehr froh, dass jetzt ein #aufschrei durch Twitter geht. Schreit mit!
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