Uniquer Ort des epischen Erzählens
Bei der Frage „Wozu noch Fernsehen?“ ist mir nur das Wort „noch“ fremd. „Wozu fernsehen?“ frage ich mich als Produzent von erfolgreichen Fernsehfilmen ständig. Es ist die Frage nach dem Publikumsinteresse, also nach dem, welchen Gewinn die Zuschauer davon haben könnten, sich eineinhalb oder sogar drei Stunden lang vor den Fernseher zu setzen, um sich eine unserer Geschichten anzusehen. Letztlich steht die Frage „Wozu fernsehen?“ für mich nicht erst seit der digitalen Revolution am Anfang jeder Projektentwicklung. So wie diese Frage für die Zuschauer seit jeher am Anfang jedes Feierabends steht: Was bietet ihnen ein Fernsehprogramm im Vergleich mit einem Abend im Kino oder im Theater, mit einem Buch oder im Netz?
Das Internet hat sich als Medium der schnellen, aktuellen und damit auch knappen (Sinn)-Einheiten profiliert. Die neuen mobilen Abspielgeräte befeuern diese Entwicklung stark, sie konturieren damit aber erst recht das Fernsehen als uniquen Ort des epischen Erzählens. Also: Was bringt uns das Fernsehen im Internetzeitalter (noch), dass wir unsere Zeit damit verbringen wollen? Immer noch beantworten jeden Abend zig Millionen Menschen diese Frage für sich positiv.
Sie finden im Fernsehen eine Sendung, ein Gesicht, eine Information, eine Geschichte, ein Gefühl – etwas, das sie beim Zappen vielleicht gar nicht gesucht haben, nun aber nicht missen möchten. Und die Zahl derer, die aus Neugier oder Gewohnheit regelmäßig einschaltet, ist trotz der spannenden Alternativen, die das Medienzeitalter anbietet, bisher nicht kleiner geworden. Im Gegenteil: die, die sich fürs Einschalten entschieden haben, schauen mit durchschnittlich 225 Sehminuten pro Tag sogar länger als je zuvor.
Natürlich sehen nicht alle so viel fern, und es sehen auch nicht mehr alle das gleiche, wie es in den frühen Jahren des Fernsehens war. Die Vervielfachung des Angebots hat in den letzten zehn Jahren notwendigerweise zu kleineren Publika geführt. Die Zuschauer von heute entscheiden situationsbezogen und intuitiv. Sie bringen Seherfahrung mit und wissen sehr genau, was sie vom Fernsehen wollen.
Kein Ausgehmedium, mehr denn je Heimkino
Der Griff zur Fernbedienung, um sich im Fernsehen über die aktuelle Nachrichtenlage zu informieren, wird sicher nachlassen. Das Internet führt hier schneller zum Ziel. Auch im Bereich der Zerstreuung wird das Fernsehen teilweise an Bedeutung verlieren. Für kleine, unterhaltsame Bewegtbildeinheiten – Soaps, Comedyshows, Talks – bieten sich internetfähige Smartphones oder Tablets als Abspielgeräte an, das 3D-Kino markiert die andere Außenposition im modernen Bewegtbild-Portfolio. Das Fernsehen wird auch in Zukunft seine Funktionsbestimmung zwischen diesen beiden Polen finden: kein Ausgehmedium, aber mehr denn je Heimkino. Kein omnipräsentes Überall-Medium, aber ein verlässlicher Alltagsbegleiter. Immer noch stehen neun von zehn Fernsehgeräten im Wohnzimmer. Selbst diejenigen, die alleine vor dem Apparat sitzen, schauen in dem Gefühl fern, ihr Seherlebnis mit anderen – Hunderttausenden oder gar Millionen – zu teilen. Wozu noch Fernsehen? Zum Beispiel dafür.
Gerade für Historienfilme, wie teamWorx sie seit mehr als zehn Jahren entwickelt, ist dieses räumlich zerstreute, aber emotional verstärkende Gruppengefühl eine wichtige Voraussetzung. Es ist aber auch ein Vertrauensvorschuss. Denn die Zuschauer lassen uns in ihr Zuhause vor, alle Erinnerungen, Emotionen, Erkenntnisse, die unsere Filme auslösen, treffen sie an ihrem Rückzugsort. Wer als Produzent seinen Film nicht sorgsam erzählt und inszeniert, löst wohlmöglich nur spontane Abwehrgefühle aus. Eine Lovestory kann auch ein ersehntes Entlastungsangebot innerhalb einer sonst emotionale heftigen Dramaturgie darstellen.
Wenn der Erfolg eines Fernseh-Events branchenintern in Marktanteilen und Einschaltquoten beziffert wird, ist das letztlich nur der messbare Nachweis dafür, dass wir mit unserer historischen Geschichte den Nerv der Zeit getroffen haben. Und nichts ist schwieriger als das. Denn es bedeutet, einen Zugang zu den Gefühlen der Zuschauer gefunden zu haben: Die können ja zuhause in ihren Wohnzimmern unter mehr als 30 Programmen wählen.
Tradition des US-Mehrteilers „Holocaust“
Warum also sich noch einmal mit der Frage beschäftigen, was der Mauerbau 1961 für die Menschen in beiden Teilen Deutschlands bedeutet hat? Warum noch einmal die Kindheitserinnerungen an den Bombenkrieg wecken, an den Holocaust erinnern, Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg thematisieren, den entbehrungsreichen Neuanfang der Bundesrepublik beschreiben? Warum also „Der Tunnel“ (2001), „Die Luftbrücke“ (2005), „Dresden“ und „Nicht alle waren Mörder“ (beide 2006), „Die Flucht“ (2007) oder „Schicksalsjahre“ (2010). Warum „Mogadischu“ über die Entführten in der Lufthansa-Maschine „Landshut“, „Das Wunder von Berlin“ über den Fall der Mauer oder „Die Sturmflut“ über die Hamburger Überschwemmung? All diese Filme haben einen beachtlichen Publikumszuspruch gehabt, obwohl oder besser: weil sie anhand einer historischen Begebenheit Fragen aufwerfen, die nicht altern: Wer hilft? Wer übernimmt Verantwortung? Wer bleibt sich in der Krise treu? Was macht die Not aus uns? Und was machen wir aus der Not?
Unsere historischen Mehrteiler stehen durchaus in der Tradition des US-Mehrteilers „Holocaust“. Über vier Folgen hinweg begleitete „Die Geschichte der Familie Weiss“ (so der Untertitel der Fernsehserie) den Leidensweg einer fiktiven Berliner Arztfamilie über das Warschauer Ghetto bis zu den Gaskammern des Vernichtungslagers Auschwitz. Die Figuren von „Holocaust“ waren ausgedacht, ihre Schicksale aber historisch. 120 Millionen Amerikaner haben die NBC-Serie 1978 gesehen; in Deutschland erreichte die von Fernsehmachern durchaus kontrovers diskutierte Serie ein Jahr später 20 Millionen Zuschauer. Das war annähernd jeder zweite erwachsene Deutsche.
Nicht alle Themen, die eine fiktionale Aufarbeitung im Fernsehen wert sind, sind so monströs wie die Shoah, nicht alle gesellschaftlichen Nachwirkungen so umfangreich wie die Ausstrahlung von „Holocaust“. Aber auch heute braucht es Versammlungsorte, an denen die Gesellschaft sich gemeinsam erinnern, der eigenen Geschichte vergewissern und die Zukunft erörtern kann. Das „Massenmedium“ Fernsehen hat sich von Beginn an als solch ein Versammlungsort für einen breiten gesellschaftlichen Verständigungsprozess verstanden und dem Publikum entsprechende fiktionale Angebote gemacht. Auch dafür wird das Fernsehen in Zukunft noch gebraucht werden.
Ähnlich unüberschaubarer Schatz wie das Internet
Die fiktionalen Beispiele aus der Fernsehgeschichte sind zahlreich und vielfältig: In den achtziger Jahren veränderte das TV-Epos „Heimat“ von Edgar Reitz unseren Blick auf die eigene Nationalgeschichte, vor wenigen Jahren fragte der ARD-Zweiteiler „Contergan – Eine einzige Tablette“ 50 Jahre nach dem Medikamentenskandal: Wer hilft? Wer kämpft? Wer übernimmt Verantwortung? Der federführende WDR hatte die Ausstrahlung seines Fernsehfilms mit einer ganzen Reihe von Dokumentationen und Diskussionssendungen flankiert. In solchen Programmbündelungen wird die Zukunft des historischen Erzählfernsehens liegen.
Denn je kleinteiliger und flüchtiger die Einheiten in den digitalen Medienangeboten sind, desto mehr kann das Fernsehen mit der großen Form und der großen Sehgemeinschaft seine Rezeptionsbesonderheit unterstreichen. Schon jetzt verfügen die Sender – öffentlich-rechtliche wie private Systeme – ja über ein immenses Programmvermögen, das sich selbst für den Vielseher als ähnlich unüberschaubarer Schatz wie das Internet darstellen muss. Bestehendes immer wieder in Sinneinheiten neu anzuordnen diesem Bekannten eine aktuelle Fragestellung hinzuzufügen, und vielleicht sogar eine klärende Antwort zu finden, wird wohl unsere wichtigste Aufgabe sein.
Wichtige Ereignisse für die Gesellschaft bewahren
Dem historischen Erzählfernsehen werden die Geschichten und die Zuschauer auch im Internetzeitalter so schnell nicht ausgehen. Die Berliner Produzentin Regina Ziegler setzt ihre Familienserie „Weißensee“ über das schwierige Alltagseben in der DDR fort. Der Produzent Michael Souvignier erinnert nach „Contergan“ mit „Blutgeld“ bald an einen weiteren bundesweit wichtigen Pharmaskandal: Die Geschichte der Familie, deren drei Söhne aufgrund versuchter Blutkonserven HIV-infiziert werden, ist authentisch. Auch „Tsunami – Das Leben danach“ erzählt die wahre Geschichte von Billi Cramer und Michael Schäffer, die beide ihre Familien bei der verheerenden Naturkatastrophe in Thailand verloren haben und sich über ihre einsame Trauerarbeit kennengelernt und inzwischen als Liebespaar und Familie gefunden haben. Und derzeit dreht Philipp Kadelbach für uns den ZDF-Dreiteiler „Unsere Väter, unsere Mütter“. Die Geschichte (Drehbuch: Stefan Kolditz) von fünf Freunden und ihrer Verabredung auf ein Wiedersehen nach dem Krieg, ist eine sensible, kritische Hommage an die Generation meiner Eltern, die nachdrücklich durch das Kriegsgeschehen geprägt wurde.
Wie kein zweites Medium ist das Fernsehen in der Lage, emotional und erzählerisch die Rolle eines Zeitzeugen zu übernehmen, der wichtige Ereignisse für die Gesellschaft bewahrt und historische Begebenheiten zu gegebener Zeit wieder in Erinnerung rufen kann. Das Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung mit Geschichte und Geschichten ist beim Fernsehpublikum meiner Erfahrung nach jedenfalls ungebrochen. Die Formen für diese Beschäftigung müssen aber ständig einer kritischen Prüfung unterzogen werden.
Es stimmt nämlich nicht, dass nur die Älteren sich (noch) für das „alte“ Medium und dessen „alte“ Themen interessieren würden. Die „Hindenburg“ hat das Gegenteil wieder eindrücklich bewiesen: Die Jungen schalten durchaus mit Interesse ein – wenn das Thema sie interessiert und die Erzählweise sie anspricht. Wer nicht eines Tages vor der Frage stehen will: „Wozu eigentlich noch Fernsehen?“, muss sich deshalb immer wieder die Frage des Publikums gefallen lassen: Wozu heute fernsehen?