Unser Zeitgefühl ändert sich rasant. Alles muss sofort geschehen. Wo man hinsieht, wird verlinkt. Alles wird toleriert, nur nicht das Warten. Es gibt Beobachter, die deswegen davon überzeugt sind, auch der homo televisiones sei passé. Das Gegenteil ist der Fall.

Ausgerechnet das Fernsehen erweist sich als erstaunlich stabil. Immer noch steigt die Sehdauer: auf mittlerweile 229 Minuten täglich, und Werbemedium Nummer eins ist TV ohnehin. Das Internet dagegen hat als Werbeträger – trotz steiler Wachstumsraten – soeben erst das Radio sicher überholt. Die RTL-Group lieferte 2010 mal eben 760 Millionen Euro Gewinn bei Bertelsmann ab und selbst die von Eigentümerwechseln durchgeschüttelte ProSiebenSat.1 Media AG entwickelt sich ökonomisch wieder positiv. Hinzu kommen die bald acht Milliarden Euro, die demnächst per Haushaltsabgabe von jedermann in das öffentlich-rechtliche System gepumpt werden. Das Fernsehen steht voll im Saft, sogar in seiner traditionellen Form als Rundfunk in Bild und Ton.

Warum soll es durch neue Medien verdrängt werden? Die Idee von delectare et prodesse, also zu informieren und zu unterhalten in einem Medium, das Bild und Ton vereint und wie ein flexibler Daten-Wasserhahn in einem dosierbaren Strom jeden Haushalt beliefert, die Welt da draußen in den privaten Raum projiziert, also „fern sehen“ ermöglicht, ist keineswegs hinfällig. Wir befinden uns am erst Beginn einer Medienrevolution. Das Ensemble der genutzten Medien wird sich fundamental verändern. Aber dass diese Revolution auch das Fernsehen zerstören wird, ist keineswegs ausgemacht.

Am Fuße einer Medienrevolution

Begreifen wir die Digitalisierung als einen epochalen Einschnitt, vergleichbar mit der Entwicklung der Schrift oder des Buchdrucks mit wiederverwertbaren Lettern, dann leben wir in der auch als Turing-Galaxis bezeichneten neuen digitalen Ära vielleicht in einem Jahr, das etwa dem Jahr 1470 der Gutenberg-Galaxis entspricht: also, ganz am Anfang. Wir wissen, dass die Umwälzungen groß sein werden, ohne die Dimensionen schon absehen zu können.

Johannes Gutenberg wollte aus Neukombination bereits vorhandener technischer Komponenten eine Schönschreibmaschine entwickeln; identische Reproduzierbarkeit wurde die Pointe. Um Peter Glasers bonmot fragend zu wiederholen: Ist die Welt nun eine Google? Immerhin scheint die „Jederzeit-Überall-Sofort-Alles-Maschine“ bereits von Larry Page und Sergei Brin erfunden worden zu sein, auch wenn die Schneisen der Datenspuren und -schatten, die wir selber in dieser Welt hinterlassen, noch größer zu sein scheinen als deren sinnvolle Kartierung.

Mark Zuckerberg hat der Menschheit mit Facebook neue Selbstgewissheit und soziale Möglichkeiten eröffnet. Aber ist auch schon klar, was die finale Pointe sein wird? Werden die menschlichen Beziehungen selbst zugleich global und fragiler? Steuern wir auf Mensch-Maschine-Hybride zu? Werden technische Medien, die ursprünglich Körperextensionen waren, wieder reimplantiert, also Teile der Körper werden? Was wird aus der Holographie und der möglichen Mehrdimensionalität von Medien? Oder einfacher: Steht eine Phase der universelle Sprachsteuerung bevor? Und: was macht das alles mit unserem Denkvermögen und unserer sozialen Produktivität?

Die Fragen sind groß. Ebenso die Visionen. Gesicherte Empirie aber gibt es nur in einer Hinsicht: wo und wie auch immer, konsumierend oder schöpferisch, empfangend oder sendend, hyperlokal oder global, unabhängig von Empfangsgeräten und Distributionswegen wird es eine Zunahme von Bewegtbildern geben.

Das Fernsehen als gefesselter Riese

Warum nennen wir die Summe dieser Zappelbilder nicht Fernsehen? Weil uns surfen edler erscheint als gucken? Weil wir das Crossmediale in diesem Begriff zu wenig gewürdigt finden? Weil wir zwar nichts dabei finden, auf „tagesschau.de lange Artikel zu lesen, aber es noch ungewohnt ist, auf der Website der Lokalzeitung fernzusehen? Weil wir YouTube nicht als Häppchen-Fernsehen verunglimpft sehen wollen?

Vielleicht aber auch einfach deshalb, weil wir das Fernsehen noch zu sehr mit einer bestimmten technischen und systemischen Konfiguration identifizieren: als Rundfunk in Bild und Ton, mit einem Programm (= Vorschrift), Sendern und Empfängern, gesetzlich gesichert in einem dualen System. Schon in dieser Existenzform sichert das Fernsehen nicht nur stabil größte Reichweiten und ökonomischen Erfolg, sondern entfaltet enorme Wirkung. Es strukturiert die Wahrnehmung, formt die Politik, prägt das gesellschaftliche Gedächtnis, durchdringt das Lernen und sogar die Artikulationsfähigkeit der Individuen.

Das Fernsehen entspricht so sehr den Grundbedürfnissen gesellschaftlicher Kommunikation, dass es weder aktiv zerstört noch still verschwinden wird. Als Rundfunk im dualen System gleicht es einem gefesselten Riesen. Als altes Medium wird es nicht veralten, wenn es sich neue Formen und Inhalte sucht. Das private Fernsehen ist am Markt eine stabile Größe.

Das Fernsehen, wie wir es kennen, ist eine etablierte Branche. Die Sender sind Spezialisten für Programmierung und Markenführung geworden. Um sie herum ist eine vielfältige Zulieferindustrie entstanden. Sie lebt von der Auftragsproduktion für die großen Marken. Kein anderer Industriezweig – egal ob Lebensmittel bewirtschaftet oder Automobile hergestellt werden – gibt prozentual so wenig Geld für Forschung und Entwicklung aus. Effizienz-Management, nicht Innovation  bestimmt aktuell die Profitabilität der Sender.

Natürlich sind sie bestrebt, warenhausgleich um die Markenkerne herum Internet-Websites, Facebook-Communitys; Call-In- und Dialog-Möglichkeiten aufzubauen; natürlich verlangt das verlässliche Zur-Verfügung-Stellen hinreichend großer Zielgruppen-Populationen neben der Geborgenheit im Ritual auch immer wieder gehörige Abwechslung im  Programm – aber eine ästhetische Innovation oder gar eine Neuorientierung für den sozialen Gebrauch von Medien ist von den werbefinanzierten, privatwirtschaftlich organisierten Sendern kaum zu erwarten.

RTL hat sich aus dem Geschäft der filmgleichen TV-Movies mit Ausnahme gelegentlicher Highlights verabschiedet, und bei Sat.1 heißt Innovation, sich daran zu erinnern, wie der Sender einmal war: „ran“, Harald Schmidt und die „Wochenshow“ wurden zurückgeholt.

Würde die satte TV-Industrie allein dem Markt überlassen, wäre eine Differenzierung in Lidl-TV und Manufaktum-TV wahrscheinlich. Gegen die kraftvolle Entwicklung eines elitären Zweiges spricht allein der durch die Inflation des frei empfangbaren Fernsehens verursachte mangelnde Entwicklungsraum für Pay-TV. Anders als in der Print-Welt, in der die Auflagen für die wichtigsten Meinungsbildner weiter sinken und die Preise im Gegenzug weiter steigen werden, gibt es in der Welt der elektronischen Medien keine Tradition, für Inhalte zu bezahlen.

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist eine stabile bürokratische Institution

ARD und ZDF, die öffentlich-rechtlichen Großsender im Dual, sind noch zu vielem in der Lage. Sie können teure Sportrechte akquirieren und prominente Moderatoren verpflichten. Sie fördern den nationalen Film und bieten Programme für alle Schichten und Publika an: von Volksmusik bis zum Kleinen Fernsehspiel. Die Jugend haben sie weitgehend verloren. Als Verkündigungs-Sendungen funktionieren die Nachrichten noch halbwegs solide. Allerdings gelingt gesellschaftliche Integration nur noch in Ausnahmen: bei Fußball-Weltmeisterschaften oder dem „Kanzler-Duell“. Vielleicht ist dies aber auch gar kein Verlust.

Fortschreitende Individualisierung muss gesellschaftlicher Selbstverständigung nicht widersprechen. Es ist nicht undemokratisch, dass angeordnete Versammlung vor dem Bildschirm kaum noch gelingt, sondern nur noch die Zerstreuung. Nötig ist allerdings eine neue Verständigung über gesellschaftlich erwünschte Inhalte. Wie so oft im Sozialstaat führen hohe Ausgaben nicht direkt zu den erwarteten Effekten, sondern blähen vor allem Institutionen auf. Das gilt auch für ARD und ZDF. In deren Gremien sollen die Repräsentanten der „gesellschaftlich relevanten Gruppen“ die Ansprüche der Gesellschaft artikulieren. Tatsächlich sind sie längst Teil des Apparats geworden statt deren kontrollierendes Gegenüber.

Demnächst müssen alle zahlen

Von den Leitungsebenen werden die neuen Medien bislang vor allem als Extension der bisherigen Praxis oder neue technische Möglichkeit missverstanden. Tatsächlich aber eröffnen sie neue Perspektiven für Partizipation. Das ist die Pointe der notwendigen öffentlich-rechtlichen Neuorientierung. Die Verantwortung der Programmmacher würde dadurch nicht geringer werden. Im Gegenteil! Sie müssten aber ihre Haltung verändern: Nicht starre Institutionen verkünden etwas, sondern flexible Organismen strukturieren Dialoge.

Die Sender müssen sich „nach unten“ zu Nutzern, Konsumenten und Bürgern öffnen. Sonst werden sie zu Spartensendern für Alte und Passive, zu toten Kathedralen in einer beweglichen Umgebung verkommen. Früher gab es schon solche Öffnungen. Die Filmgruppe der „Stollwerck-Besetzer“ in Köln erhielt bald Abspielmöglichkeiten im WDR; die Streikenden in Rheinhausen prägten Berichte und waren nicht nur deren Gegenstand. Heute sind gerade die bräsigen Regionalprogramme zum Hort des Spießertums und niedlicher Folklore mutiert – jenseits der Lebenswirklichkeit und erst recht der medialen Möglichkeiten. Aber welche nach eigener Artikulation drängenden Gruppen wenden sich heute noch an die von ihnen bezahlten Sender?

Demnächst müssen alle zahlen. Die Haushaltsabgabe ist eine beschlossene Sache. Diese noch deutlichere verpflichtung gegenüber allen, die zahlen, wäre eine wunderbare Gelegenheit, die Rechenschaftslegung der Sender zu revolutionieren. Stattdessen wird zunächst einmal die geldeintreibende GEZ aufgebläht. Längst ist sie größer als die kleinen ARD-Sender. Auf jedes Problem gibt es immer zuerst eine bürokratische Antwort. Die durch höchstrichterliche Entscheidung als „nicht-staatlich“ definierten Medien begreifen noch nicht, dass sie eine neue „gesellschaftliche Betriebserlaubnis“ brauchen.

Versagen als Bürgerfernsehen

Als Lieferant für Werbereichweiten funktionieren die privaten Sender prima. Die Manager müssen entscheiden, wie lange die Effizienz-Strategie noch gut geht. Die Werbung verlangt höhere Individualisierung und mehr Datensammelei. In einem Mix aus Kooperation und Konkurrenz werden sich RTL und Sat.1 gegenüber dem Online-Campaigning öffnen, ohne dadurch das klassische Programmfernsehen zu gefährden.

Dieses marktkonforme Agieren schaffen auch die Öffentlich-Rechtlichen. Schwieriger wird es, wenn sie den Nutzer auch als citoyen ansprechen sollen und wollen. Als Bürgerfernsehen bleiben ARD und ZDF weit hinter den Möglichkeiten zurück. Das wird sich aber entwickeln – entweder autonom, vorbei an den großen Häusern mit vielen Telefonen, oder diese gravierend beeinflussen. Dieses Problem ist viel größer als allein die fehlende Jugendorientierung oder die aktuelle Talkshow-Inflation. Das Fernsehen ist unzerstörbar, von ihrer Bereitschaft zur Öffnung wird abhängen, ob auch die Institutionen ARD und ZDF überlebensfähig sind.


Dieser Beitrag entstand im Juni 2011 und wurde für die Veröffentlichung auf VOCER von der Redaktion aktualisiert.