Vaterlandsverräter? Presseverteidiger!
Der Beginn der sechziger Jahre war für den Ende 1918 geborenen Hamburger Politiker Helmut Schmidt von ganz entscheidender Bedeutung. Er war Ende 1961 von der Bonner Oppositionsbank, auf der die SPD seit Gründung der Bundesrepublik saß, als Innensenator in die Landesregierung seiner Heimatstadt gewechselt. Kaum hatte er sich dort eingefunden, brach in der Nacht zum 17. Februar 1962 die bis heute im kollektiven Gedächtnis der Hamburger präsente Flutkatastrophe über die Hansestadt ein. Der neue Senator bewährte sich, wurde als „Herr der Flut“, wie ihn der „Spiegel“ am 7. März 1962 nannte, bundesweit berühmt als Krisenmanager. Dabei kamen ihm auch seine guten Kontakte zur Nato zu Gute. Vermutlich „etwas außerhalb der grundgesetzlichen Legalität“ (Sommer 2010: 199, 289; vgl. Soell 2004: 385) setzte er auch Nato-Hubschrauber zur Rettung der Hamburger Flutopfer ein: „Sie sind mir nicht unterstellt worden, ich habe sie mir genommen“, sagte er. Und als ihn der verdutzte Bürgermeister Paul Nevermann fragte, ob denn die Hamburger Verfassung noch gelte, soll Schmidt gar geantwortet haben, Paul solle ihn nicht mit so „unwichtigen Fragen“ (Noack 2010: 89; vgl. Schwelien 2003: 157f.) behelligen.
Die guten Kontakte zur Nato beruhten unter anderem darauf, dass Schmidt einer der wenigen auf dem Kontinent war, der sich intensiv und auf hohem Niveau mit der Verteidigung Westeuropas auseinandersetzte. Mit seinem Buch „Verteidigung oder Vergeltung – ein deutscher Beitrag zum strategischen Problem der Nato“ hatte er sich 1961 national und international in Fachkreisen bereits einen Namen als Experte in Verteidigungsfragen gemacht. Am 23. März 1961 hieß es im „Spiegel“ in einer durchaus für Schmidt kritischen Besprechung einer Fernsehsendung zu Schmidts Buch, dass „der SPD-Wehrexperte Helmut Schmidt (‚Schmidt-Schnauze‘) die christdemokratische Wehrpolitik auseinanderzupfte“.
Für den hier vorliegenden Aufsatz und eine von der Helmut und Loki Schmidt-Stiftung unterstützte Studie über Helmut Schmidts Verhältnis zu den Medien konnte im Privatarchiv von Schmidt in seinem Privathaus in Hamburg-Langenhorn geforscht werden, unter anderem konnten Schmidts eigene Arbeiten und seine Privatkorrespondenz gesichtet und ausgewertet werden (vgl. Birkner 2013 – im Erscheinen). Aus Schmidts Korrespondenz geht hervor, dass „Spiegel“-Redakteuren das Buchmanuskript schon vor der Veröffentlichung vorlag und Gedanken daraus einflossen in eine wenig schmeichelhafte Titelgeschichte des „Spiegel“ am 5. April 1961 über den damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß. Der „Spiegel“ bekämpfte Strauß mit Verve und wusste sich hierin mit Helmut Schmidt einig, auch wenn Schmidt der Stil des „Spiegel“ nicht immer gefiel. Seinen Schmidt-Schnauze-Spitznamen, den insbesondere der „Spiegel“, unter anderem am 14. Januar 1959, immer mal wieder nutzte, hatte er unter anderem wegen seiner ersten im großen Stile öffentlichkeitswirksamen Rede im Bundestag, auch zu Verteidigungsfragen, erhalten. Am 22. März 1958 hatte er dort erklärt:
„Ich glaube, der Verteidigungsminister Strauß ist ein gefährlicher Mann, gerade wegen seiner überragenden Eigenschaften, meine Damen und Herren, ein gefährlicher Minister.“
(Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, 20. Sitzung, Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958, S. 1044)
Noch nach seiner Abwahl 1982 warnte er die nationale wie internationale Öffentlichkeit vor Strauß. Kurz vor Weihnachten 1982 sagte Schmidt in einem Interview mit dem „Stern“:
„Ich halte Strauß immer für gefährlich […].“
Allerdings war ihm der Umgangston des „Spiegel“ zu scharf und zu wenig abwägend. Deshalb wählte Schmidt nicht den aggressiven „Spiegel“, sondern die feinere „Zeit“, um sich in zwei Aufsätzen, so nannte er seine langen Artikel in der „Zeit“, in der zweiten Augusthälfte 1962 zu Verteidigungsfragen zu äußern. Beide erschienen unter der Überschrift „Die unvermeidbare neue Strategie“ und zeugten von Schmidts Besorgnis gegenüber der strategischen Ausrichtung der Nato. Auch hier betonte er im ersten Artikel den „hervorragenden Intellekt des deutschen Verteidigungsministers“, nicht ohne diesen auch im zweiten Artikel zu kritisieren: „Der deutsche Verteidigungsminister hat einfach nicht das Recht, das deutsch-amerikanische Verhältnis durch seine über Zeitungsinterviews geführte vielfache öffentliche Kritik zu gefährden.“
Vor allem aber ging es ihm darum, das neue atomare Patt zu skizzieren und daraus die „Notwendigkeit zu stärkerer konventioneller Rüstung des Westens“ zu begründen. Die „weitere Aufrechterhaltung eines allgemeinen nuklear strategischen Vergeltungskonzepts“ sei „unsinnig, denn sie würde im Ernstfall Europa (und ebenso die Völker und die Territorien der beiden Weltmächte) der Vernichtung anheim geben“.
Für Schmidt war klar, und er war damit einer der ersten in Europa, dass bei atomarem Gleichgewicht auch ein Gleichgewicht im konventionellen Bereich zu schaffen sei, und wies darauf hin, dass der „Raum Oslo – Kopenhagen – Hamburg […] operativ der schwächste“ entlang des Eisernen Vorhangs sei. Schmidt war es wichtig, dass in Westdeutschland, in Westeuropa, eine Debatte über die Strategie des Westen geführt wurde und dies veranlasste ihn als Innensenator auch, an der so genannten Fallex-Übung der Nato im September 1962 „möglichst viele Journalisten […] in Hamburg teilnehmen zu lassen“ (Soell 2004: 412). Schmidt wollte Öffentlichkeit herstellen, doch diese Form der Öffentlichkeit bei einem Nato-Manöver gefiel vielen in der konservativen Regierung in Bonn überhaupt nicht.
Verlauf der Affäre
Conrad Ahlers, neuer stellvertretender Chefredakteur des „Spiegel“, gefielen vor allem die Schlussfolgerungen aus dem Manöver nicht, er hielt die Bundeswehr für nur „Bedingt abwehrbereit“, wie der entsprechende Artikel, der am 08. Oktober 1962 im „Spiegel“ erschien und die „Spiegel“-Affäre auslösen sollte, dann hieß. Ahlers war erst vor einem halben Jahr von der „Frankfurter Rundschau“ zum „Spiegel“ gewechselt, hatte zuvor als Pressereferent im Verteidigungsministerium gearbeitet und seither sehr gute Kontakte zu Beamten und Offizieren dort (vgl. Soell 2004: 411). Er war also selber ein Fachmann, und doch bat er Helmut Schmidt, den er aus Studententagen und als Verteidigungsexperten kannte, recht kurzfristig am 29. September 1962 um ein Gespräch. Hartmut Soell hat in seiner zweibändigen, insgesamt über 2.000 Seiten umfassenden Schmidt-Biographie das Gespräch und die folgenden Ermittlungen gegen Schmidt und auch Ahlers sehr nachvollziehbar rekonstruiert.
Am Abend des 29. Septembers erschien Ahlers um 23 Uhr in Schmidts Wohnung und kurz darauf auch Willy Berkhan. Schmidt hatte seinen ebenfalls in Verteidigungsfragen versierten Freund zu dem Gespräch gebeten. Zunächst diskutierten sie den zweiteiligen „Zeit“-Artikel von Schmidt, sprachen generell über Verteidigungsfragen und nutzten hierzu die umfangreiche Schmidtsche Bibliothek. Dann bat Ahlers Schmidt um die Durchsicht eines 50 bis 60 maschinengeschriebene Seiten umfassenden Manuskripts, eine vorläufige Version von „Bedingt abwehrbereit“ (vgl. Soell 2004: 412). Schmidt schrieb Anmerkungen an den Rand, gab Hinweise und „äußerte an fünf Stellen erhebliche Bedenken, dass militärische Geheimnisse offenbart würden“ (ebd.: 413; vgl. Sommer 2010: 199). Schmidt meint heute über Ahlers und dessen Co-Autor Hans Schmelz: „Beide hatten wirklich Ahnung von den militärischen Dingen. Aber ich verstand, das darf ich sagen, etwas mehr davon als die Jungs vom ‚Spiegel‘, denn ich hatte im Jahr zuvor ein Buch geschrieben, ‚Verteidigung oder Vergeltung‘, das war in Fachkreisen ein großer Erfolg.“ Der Artikel wurde dann auch noch einmal deutlich überarbeitet, bevor er am 8. Oktober im „Spiegel“ erschien.
Schmidt ärgerte sich zunächst darüber, dass er in dem Artikel in seinen Augen missverständlich zitiert wurde, und fand das Stück, auch in der überarbeiteten Version, doch so provokant, dass er dies auch Rudolf Augstein sagte, als er mit diesem, Marion Gräfin Dönhoff von der „Zeit“ und dem britischen Labour-Abgeordneten Richard Crossman kurz nach der Veröffentlichung bei einer Diskussion in der Hamburger Universität gemeinsam auf dem Podium saß (vgl. Soell 2004: 415).
„Martialischer Einmarsch in der Nacht“
Doch davon, dass Bundesbeamte der Sicherungsgruppe Bonn die Räume des „Spiegel“ im Hamburger Pressehaus am Speersort am 26. Oktober 1962 gegen 21 Uhr besetzten, erfuhr Helmut Schmidt, als Hamburger Innensenator zuständiger Landesminister, erst eine halbe Stunde vor der Aktion. Er äußerte sofort schwere Bedenken und sicherte dennoch die erbetene Amtshilfe, Räume im Polizeipräsidium zur Verfügung zu stellen, zu (vgl. Grosser/Seifert 1966: 241). Peter Merseburger (2007: 246) spricht in seiner Augstein-Biographie von einem „martialischen Einmarsch von etwa 50 Polizeibeamten in der Nacht“. Augstein, den die Beamten auch zu Hause nicht antrafen, stellte sich am nächsten Tag, am Samstag, den 27. Oktober 1962 den Behörden. Der Verlagsdirektor Hans Detlev Becker und weitere Redakteure wurden verhaftet. Ahlers weilte im spanischen Andalusien und „Franz Josef Strauß ließ per heimlichem Anruf einen deutschen Journalisten von francofaschistischen Behörden verhaften“ (Köhler 2002: 136).
Am Samstag traf Schmidt im Polizeipräsidium auf den Ersten Staatsanwalt der Bundesanwaltschaft Siegfried Buback und wurde von diesem unter anderem darüber unterrichtet, dass Augstein sich gestellt habe. Buback machte Schmidt später einen Vorwurf daraus, dass dieser nicht bereits in diesem Gespräch seinen Beitrag zum „Spiegel“-Artikel erwähnt habe (vgl. Soell 2004: 420). Die ganze Situation erschien Schmidt als durchaus fragwürdig, und er machte sich daran, die Rechtsstaatlichkeit und die Pressefreiheit in der Hansestadt zu verteidigen.
Das bedeutete zunächst, dass er versuchte, die Lage in Hamburg nicht eskalieren zu lassen. Denn es formierte sich publizistischer Widerstand gegen die Regierung. Der „Stern“ schrieb: „Der lange Arm der deutschen Justiz, der den Judenfresser Zind in Italien nicht erreichen konnte – den Ahlers in Spanien fing er.“ Weitere Unterstützung erhielt der „Spiegel“ in der Medienstadt Hamburg durch Marion Gräfin Dönhoff am 16. November in der „Zeit“. „Zeit“ und „Stern“ zeigten sich darüber hinaus sofort ganz praktisch solidarisch. Weil die Redaktion des „Spiegel“ zunächst besetzt blieb, zögerte der Verleger der beiden Blätter Gerd Bucerius nicht, im Hamburger Pressehaus, „den Redakteuren des ‚Spiegel‘ die Räume von ‚Zeit‘ und ‚Stern‘ zur Verfügung zu stellen. Für einmal wurde die räumliche Nähe zur guten, hilfreichen Beziehung. Nur so konnte der ‚Spiegel‘ erscheinen.“ (Dahrendorf 2000: 170) Stolz und dankbar für die gelebte Solidarität schrieb der „Spiegel“ am 7. November 1962:
„Verlag und Redaktion von ‚Zeit‘ und ‚Stern‘ nahmen tagelang die schwere Beeinträchtigung ihrer eigenen Arbeit in Kauf und liehen soviel Räume wie irgend möglich, stellten ihre Telefone zur Verfügung und, nicht zuletzt, ihr Kasino.“
Die neuen politischen Magazine des Fernsehens, zunächst „Panorama“, dann „Report“, taten sich mit Regierungskritik und der Verteidigung der Pressefreiheit hervor. Und während sich sogar Zeitschriften wie „Quick“ schnell auf die Seite des „Spiegel“ schlugen, hielt sich die „Bild-Zeitung“ zunächst ebenso zurück wie die Journalistenverbände. Nach und nach gab es jedoch eine breite, fast einstimmige Solidarisierung der Massenmedien (vgl. Hodenberg 2006: 331). Mobilisiert von den Medien kam es zu regelrechten Massendemonstrationen für die Freilassung von Rudolf Augstein. Mit den Worten „Komm Peter, wir fahren da hin“, machten sich Schmidt und sein Freund Peter Schulz, damals Bürgerschaftsabgeordneter, auf den Weg zum Untersuchungsgefängnis (Schulz 2009: 255). Schmidt konnte die Demonstranten unter Augsteins Zellenfenster beruhigen. An der Universität Hamburg hat er eventuell sogar eine gewalttätige Eskalation verhindern können (vgl. Ellwein/Liebel/Negt 1966: 417; Schwelien 2003: 161). Derweil schrieb der Hamburger Bürgermeister Paul Nevermann am 2. November 1962 an Bundeskanzler Konrad Adenauer, er sehe „eine Verletzung des Grundgesetzes“ und forderte die Bundesregierung auf, „umgehend einen einwandfreien Ablauf des Verfahrens zu sichern“. (Grosser/Seifert 1966: 254)
Bemühen um kritische Öffentlichkeit
Hatte der Innensenator Helmut Schmidt noch im Angesicht der tödlichen Bedrohung Hamburger Bürger durch die Sturmflut Nevermanns Frage nach der Verfassung im Eifer des Gefechts als „unwichtig“ (vgl. Noack 2010: 89; Schwelien 2003: 157f.) bezeichnet, so stand er nun in der Verteidigung der Pressefreiheit fest an der Seite des Bürgermeisters. Das lässt sich nur aus seiner Biographie heraus erklären (vgl. hierzu ausführlich Birkner 2013 [im Erscheinen]). Weil er in den Jahren von 1933 bis 1945 so stark unter der nationalsozialistischen Propaganda gelitten hatte (Schmidt 1992), bemühte er sich seither intensiv um eine kritische Öffentlichkeit und versuchte diese auch durch eigene Beiträge herzustellen.
Nun schrieb er an den Bundesinnenminister Hermann Höcherl: „Die Gefahr einer Einschränkung der Pressefreiheit ist nicht von der Hand zu weisen. Ich fühle mich dafür verantwortlich, dass hamburgische Beamte nicht zur Amtshilfe bei gesetzeswidrigen Amtshandlungen herangezogen werden.“ (Grosser/Seifert 1966: 254) Und der noch immer unter schwierigen Bedingungen produzierte „Spiegel“ wusste am 14. November 1962 zu berichten: „Statt gegen den ‚Spiegel‘ setzte der Innensenator hamburgische Kriminalpolizisten auf Bundesbeamte an: Die Hamburger Kripo sollte untersuchen, ob Telefonleitungen überwacht und Ferngespräche blockiert würden.“
Es ist sehr beeindruckend, wie deutlich sich Schmidt, bei aller gebotenen Amtshilfe gegenüber dem Bund und aller ansonsten vorgebrachten Kritik insbesondere am Stil des „Spiegel“, auf der Seite der Pressefreiheit und damit auf der Seite des Wochenblatts positionierte. In seiner privaten Korrespondenz findet sich ein Brief vom 22. November 1962 an Ahlers in die Haftanstalt Euskirchen in der Eifel:
„Sie werden vielleicht wissen, dass ich den ‚Spiegel‘ keineswegs immer für erfreulich gehalten habe, nichtsdestoweniger aber immer für notwendig. Jedoch hat mein Urteil über den ‚Spiegel‘ überhaupt nichts zu tun mit meiner persönlichen Hochachtung vor Ihrer jahrelangen Leistung als Publizist und meiner freundschaftlichen Gesinnung für Sie. Sofern ich im außerdienstlichen, persönlichen Bereich Ihnen derzeit irgendwie behilflich sein können, so lassen Sie es mich bitte wissen oder sagen Sie Ihrer Familie in Hamburg, dass sie sich jederzeit an mich wenden möge.“
Ahlers schrieb schon zwei Tage später aus der Haft zurück, dankte Schmidt für die angebotene Hilfe und lobte ihn als eine der wenigen Personen, die sich „in Deutschland außerhalb der Bundeswehr ernsthaft mit militärpolitischen Fragen befassen“. Schmidts Position in der Sache war überdeutlich, und das gefiel natürlich einigen in der Bonner Regierung gar nicht. Während die SPD-Fraktion (1963) ihren Bericht über die Fehler der Regierung in der Affäre veröffentlichte, braute sich über Schmidt eine Kampagne zusammen.
Verleumdung
Letztlich gab der gesamte Artikel von Ahlers und Schmelz nichts für ein Verfahren wegen Landesverrats her (vgl. Köhler 2002: 129) Doch zunächst führte er nicht nur zur Besetzung des Räume des „Spiegel“, zur Verhaftung Augsteins und zur Verhaftung von Ahlers im spanischen Malaga durch franquistische Behörden. Auch der SPD-Wehrexperte Helmut Schmidt geriet beim Verteidigungsminister Strauß und bei der Bundesanwaltschaft schnell unter den Verdacht der Beihilfe zum Landesverrat. Soell (2004: 431) zitiert aus den Ermittlungen:
„‚Schmidt‘, so lautete schon der Anfangsverdacht, ‚ist mindestens seit 1956 Informationsquelle des Spiegel.‘ Aus Spesenlisten über Bewirtungskosten – die Beträge lagen zwischen 4,18 und 6,60 DM! – und Ferngesprächen von „Spiegel“-Redakteuren, die sich mit Schmidt getroffen hatten, aus Briefen und Fernschreiben von Redaktionsmitgliedern untereinander wurde versucht, ein enges Beziehungsnetz zu konstruieren. Dabei erschien Schmidts Name in den ausgewerteten Unterlagen innerhalb von sechs Jahren nur sechs Mal. Beim siebten Mal, einem Anfang Januar 1962 verfassten Brief des „Spiegel“-Redakteurs Hans Schmelz, der Schmidt schon seit 1946 kannte, hieß es: ‚Meine Bemühungen, den neuen Senator Helmut Schmidt als Zeugen in der Strauß-Sache zu keilen, sind leider bisher ohne Erfolg geblieben.'“
Es wurde kolportiert, Schmidt habe schon während der Fallex-Übung in Hamburg Journalisten Geheimnisse verraten, um ihn in der „Spiegel“-Affäre zum Landesverräter zu machen. Und es wurde außerdem behauptet, Schmidt habe bei der erwähnten Podiumsdiskussion an der Hamburger Universität Augstein vor einer Polizeiaktion gegen den „Spiegel“ gewarnt (vgl. Soell 2004: 415).
Als Schmidt davon erfuhr, dass – noch geheim – gegen ihn ermittelt wurde, schaltete er nicht etwa einen Anwalt ein, sondern schenkte dem Richter, an dessen Kompetenz in Verteidigungsfragen er offensichtlich zweifelte, erst einmal ein Exemplar seines Buches „Verteidigung oder Vergeltung“ (vgl. ebd.: 425). Als die Ermittlungen dann öffentlich wurden, titelte die Saarbrücker Zeitung am 9. März 1963: „Verfahren gegen den Hamburger Innensenator Schmidt eingeleitet – Nachspiel zur ‚Spiegel‘-Affäre spitzt sich zu.“ Und der „Weser Kurier“ schrieb, der „Hamburger Bürgermeister Nevermann (SPD) bestätigte gestern abend, dass gegen den Senator Schmidt im Zusammenhang mit der ‚Spiegel‘-Affäre von der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist.“ Schmidt sah sich im März 1963 Vorwürfen ausgesetzt, im Vorfeld der Affäre militärische Geheimnisse verraten zu haben, und ein CDU-Politiker fragte, „seit wann es üblich sei, dass ein Senator der Hansestadt Hamburg ‚Spiegel‘-Beiträge redigiere, auch wenn er vorgebe, militärischer Sachverständiger zu sein.“
Das zielte natürlich darauf ab, dass Schmidts Beitrag doch stärker gewesen sein müsste und darauf, dass er den Geheimnisverrat nicht nur hätte erkennen, sondern hätte anzeigen müssen. Nach der Fragestunde im Bundestag erklärte Schmidt den Journalisten, laut einer nicht redigierten Tonbandabschrift der Pressekonferenz vom 13. März 1963, die sich in seinem Privatarchiv findet: „Ich war besonders vorsichtig, denn ich stand gerade im Mittelpunkt einer Verleumdungskampagne gewisser Kreise, die mir vorwarfen, angeblich seien (sic) in Hamburg während der Fallex-Übung Geheimnisverrat gegenüber Journalisten vorgekommen.“ Dabei versuchte Schmidt keineswegs, seine Kontakte zur Presse zu verschweigen oder klein zu reden: „Es kommen viele Kollegen aus der Presse bei mancherlei Gelegenheit zu mir, um sich mit mir zu unterhalten.“ Soell (2004: 427) fasst zusammen, dass hier bei den ermittelnden Stellen offenbar auch „mangelnde Kenntnis des Alltags eines aktiven Parlamentariers“ vorlag, „der auf Feldern tätig war, die die Journalisten interessierten und der seinerseits deren Interesse benutzte, um für seine Ziele mehr öffentliche Wirkung zu erreichen“.
Als die Ermittlungen eingestellt wurden
Die „Lübecker Nachrichten“ zitierten Schmidt nach der Fragestunde am 13. März zu den Ermittlungen der Bundesanwaltschaft: „Ich war dem ‚Spiegel‘-Redakteur Ahlers tatsächlich behilflich – nämlich Geheimnisverrat zu vermeiden. […] In der Sache ist alles so klar, dass ich nicht einmal einen Rechtsanwalt bemüht habe.“ Und auf die Frage eines Journalisten, ob er denn nun den Artikel redigiert habe, antwortete er laut der nicht redigierten Tonbandabschrift der Pressekonferenz vom 13. März 1963: „Sie sind Redakteur und wissen, was redigieren heißt, ich würde mir gar nicht zutrauen, solches zu können“, stritt aber seine Mitwirkung nicht ab.
Schmidt blieb zunächst gelassen, und dennoch ist davon auszugehen, dass die gesamte Affäre ihre Spuren bei ihm hinterließ. In seiner Privatkorrespondenz findet sich ein Brief von Augstein, der sich am 2. Februar 1965 schriftlich dafür entschuldigte, dass „Sie durch Conny Ahlers und mich in eine unangenehme Sache hineingezogen worden sind“.
Insbesondere ärgerte Schmidt, dass sich das Verfahren so lange hinzog. Erst Mitte 1965, also über zwei Jahre nachdem Ahlers Artikel die Republik aufgeregt und das Verfahren gegen Schmidt eröffnet worden war, kam endlich Bewegung in die Sache: Das Verfahren gegen Ahlers und Augstein wurde eingestellt. Und jenes gegen Schmidt? Obwohl mit dem Ende des Verfahrens gegen den „Spiegel“ fest stand, dass kein Geheimnisverrat vorlag und es somit auch ganz logisch schon eine Beihilfe zu einem nicht erfolgten Geheimnisverrat gar nicht geben konnte, musste Schmidt sich noch bis zum Ende des folgenden Jahres gedulden, bis die Ermittlungen gegen ihn eingestellt wurden.
Schmidt bekam am 6. Februar 1967 einen Brief an seine Privatadresse in Hamburg, worin er über die Einstellung des Verfahrens informiert wurde. Allerdings verwunderte ihn sehr, dass da eigentlich ein Verfahren eingestellt wurde, welches nie eröffnet worden war. Heute, wenn er in seinem Büro bei der „Zeit“ im Pressehaus am Hamburger Speersort sitzt und sich an die ganze Affäre erinnert, spielt dies noch immer eine Rolle:
„Pressefreiheit ist ernsthaft gefährdet worden zu Zeiten von Adenauer als Kanzler und Strauß als Verteidigungsminister in der fälschlich so genannten ‚Spiegel‘-Affäre, die in Wirklichkeit eine Strauß-Affäre war. Und eine Affäre dieser idiotischen Bundesanwaltschaft von damals, die in ihrer Verblendung so weit gegangen ist, gegen mich, ich war damals Innensenator von Hamburg, ein Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zum Landesverrat einzuleiten. Das Verfahren ist gelaufen von 1962 bis 1966.
Ich habe mich damals [Anmerkung des Autors: 1966] bei dem neu ins Amt gekommenen Justizminister Gustav Heinemann mündlich beschwert: ‚Gustav, guck dir das mal an.‘ Dann haben die das Verfahren gegen mich eingestellt. Aber die Einstellungsverfügung lautete nicht etwa ‚Das Verfahren gegen den XY wegen Beihilfe zum Landesverrat wird hiermit eingestellt aus den und den Gründen‘, sondern sie haben ein Verfahren eingestellt wegen fahrlässigen Umgangs mit Staatsgeheimnissen, das sie nie eröffnet hatten. Ich habe dann, um meinen Kollegen Heinemann nicht in Schwierigkeiten zu bringen, darauf nur noch mit dummen Witzen geantwortet und nicht mehr reagiert. Aber es hat mich geärgert und ich habe es bis heute im Hinterkopf, wie Sie merken.“
(Helmut Schmidt im Gespräch mit dem Autor am 6. Januar 2011)
Verteidiger der Pressefreiheit
Fast drei Jahre vor dem Ende der Ermittlungen gegen ihn und nur gut ein Jahr nach dem die Affäre auslösenden Artikel im „Spiegel“, stellte der Innensenator Helmut Schmidt der Hamburger Bürgerschaft am 15. Januar 1964 ein neues Landespressegesetz vor. Einen „Modellentwurf eines Landespressegesetzes“ hatte der Bürgermeister Paul Nevermann bereits in seiner Regierungserklärung im Januar 1962 angekündigt und der Schmidt-Biograph Hartmut Soell (2004: 438) ist sicher, die „Spiegel“-Affäre habe sichtbar „den sonst eher geruhsamen Gang der Landesgesetzgebung“ beschleunigt.
Wie wichtig Schmidt das Gesetz und seine Rede hierzu waren, davon zeugt, dass er seine Rede 1967 in einem Sammelband Beiträge veröffentlicht hat. An dieser Stelle ist der Rede eine Unterüberschrift vorangestellt, die erklärt, das dann verabschiedete Pressegesetz gelte „als europäisches Musterbeispiel für ein liberales Presserecht“ (ebd.: 303). Seine Rede verdeutlicht, welche gesetzgeberischen und auch intellektuellen Konsequenzen Schmidt aus der ganzen Affäre – das Verfahren gegen ihn war ja noch im Gange – zog. Dabei erstaunt, dass direkte Hinweise auf die „Spiegel“-Affäre, die sich noch im Redemanuskript und im stenographischen Bericht der Bürgerschaftssitzung finden, in der Veröffentlichung von 1967 – da war das Verfahren gegen ihn bereits eingestellt – nicht mehr auftauchen. Als Schmidt am 15. Januar 1964 vor die Bürgerschaft im Hamburger Rathaus trat, wurde er gleich grundsätzlich (ebd.):
„Wir alle wissen, dass die Idee der Volkssouveränität sich in einem modernen Massenstaat nicht anders verwirklichen läßt als auf dem Wege der Repräsentativdemokratie. Und wir wissen, dass die politische Funktion des Wählervolks in seiner Gesamtheit zur Hauptsache darin besteht, in regelmäßigen Abständen erneut über die Zusammensetzung des Parlaments zu entscheiden. Aber das Volk kann von seinen souveränen Rechten nur dann Gebrauch machen, wenn es jederzeit imstande ist, sich über die Tätigkeit der in seinem Namen handelnden Organe ein Bild zu machen, ein Urteil zu fällen und darüber hinaus ganz allgemein zu verfolgen, was in der Welt vor sich geht. Nur unter diesen Voraussetzungen ist das Wählervolk imstande, ein politisches Urteil zu fällen. Die Information aus unabhängigen Quellen stellt sine qua non die Voraussetzung für die Entscheidungsfähigkeit des Bürgers in diesem Sinne dar. Insofern darf man wohl sagen, dass ein Pressegesetz eine Fundamentalfunktion der Demokratie rechtlich regelt.“
Den freien Zugang zu Informationen, den er bis 1945 hatte entbehren müssen, konnte er nun in Gesetzesform gießen. Und Schmidt formulierte weitere wichtige Aufgaben, welche die Medien in der Gesellschaft erfüllen (ebd.: 304):
„Über ihre für das Funktionieren der Demokratie unverzichtbare Aufgabe hinaus aber ist in unserer modernen Gesellschaft die Presse ebenso unentbehrlich für den Austausch von Nachrichten und von Urteilen auf dem kulturellen, auf dem wissenschaftlichen, dem wirtschaftlichen, dem geistigen Felde, auf dem Gebiete des Sports, unentbehrlich für die Unterhaltung. Kurz, Presse ist unentbehrlich für das Funktionieren des gesellschaftlichen Prozesses schlechthin. Um es zusammenzufassen: Je besser jemand informiert ist, desto größere Chancen hat er, gute Entscheidungen zu treffen.“
Wie halten Sie’s mit der Pressefreiheit?
Eine moderne Gesellschaft wird durch die Massenmedien zusammengehalten, denn Journalismus hat die Funktion, eben jene gesellschaftlichen Zusammenhänge herzustellen, die „durch die Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft verloren gegangen sind“ und „zueinander zu vermitteln, was in einer modernen Gesellschaft vorgeht“, wie die Journalismusforscher Siegfried Weischenberg (1994: 436) und Horst Pöttker (1998: 61-62) betonen. Gerade weil die Presse so unverzichtbar für die Gesellschaft ist, musste sie für den Hamburger Innensenator ein Höchstmaß an Freiheit genießen. Er sah, wohl auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen seines eigenen Lebens, vor allem im Staat eine potentielle Bedrohung der Pressefreiheit und er ließ keinen Zweifel daran, wer hier vor wem zu schützen sei (1967: 318):
„Die Vorschriften, meine Damen und Herren, über Beschlagnahme und Sicherstellung sind im Presserecht der Prüfstein für die Gesinnung des Gesetzgebers. Hier stellt sich die Gretchenfrage, wie man es tatsächlich mit der Pressefreiheit hält. Die ‚Verhaftung des Gedankens‘ – dieses Schlagwort kennen Sie – ist ja, von der Zensur autoritärer Staaten abgesehen, nicht nur die härteste Sanktion im geistigen Bereich, sondern zugleich auch der schärfste wirtschaftliche Eingriff gegenüber dem Presseunternehmen, auch wenn es sich nur um eine vorläufige Maßnahme handeln soll. […] Deshalb meinen wir, daß die Beschlagnahme- und Sicherstellungsregelungen mit außerordentlicher Sorgfalt getroffen werden müssen, sehr viel sorgfältiger, als das bislang der Fall gewesen ist.“
Es erscheint sehr plausibel, dass dies eine direkte Lehre aus der „Spiegel“-Affäre war. Es ging Schmidt um einen größtmöglichen Schutz der Presse, und das bezog sich auf weitere Bereiche eines möglichen staatlichen Zugriffs auf Journalisten (ebd.: 319):
„Das Recht auf Zeugnisverweigerung, meine Damen und Herren, ist hier sehr allgemein gefaßt und es sind wirklich alle Hintertüren verbaut. Es ist eine sehr liberale, eine sehr weitgehende Regelung, wie wir sie hier vorschlagen.“
Diese Gesetzgebung ging bei den Rechten der Presse bis an die Grenzen des Möglichen. Gleichwohl betonte Schmidt auch die Pflichten (ebd.: 314):
„Lassen Sie mich zu den beherrschenden Grundgedanken des Gesetzes auch ein paar Worte sagen. Die Presse soll im Rahmen, den das Grundgesetz gezogen hat, alle vertretbaren Freiheiten gesichert bekommen, deren sie bedarf, um ihre öffentliche Aufgabe in der Demokratie und für die Demokratie erfüllen zu können. Gleichzeitig soll aber dem einzelnen wie auch dem Staat das nicht zu umgehende Minimum an Schutz gewährt werden gegen den eventuellen Mißbrauch dieser Privilegien durch die Presse. Auch Journalisten sind nur Menschen und sind nicht unfehlbar. Deshalb sagen wir: einerseits Pressefreiheit, andererseits Presseverantwortung.“
Und Schmidt machte sehr wohl deutlich, dass es für ihn auch immer das Recht der Kritik an der Presse geben müsse, wovon er auch im Laufe seiner langen Politikerlaufbahn (vgl. u.a. Schmidt 1978; 1994; 1998) viel Gebrauch machte (Schmidt 1967: 321):
„Ich habe mich immer wieder, so muss ich persönlich sagen, über die mimosenhafte Empfindlichkeit gewisser Presseorgane und mancher Journalisten in diesem Punkt gewundert. Nicht nur die Presse, sondern jedermann – der Bürger, der Beamte, der Richter, der Politiker – hat das Grundrecht auf ungehinderte Äußerung seiner Meinung auch gegenüber der Presse. Ihn dann, wenn dieses Grundrecht gegenüber einer Zeitung in Anspruch genommen wird, gleich heimlich Zensurgelüste zu zeihen, erscheint mir ebenso abwegig, als wolle man in jedem Journalisten einen potentiellen Ehrabschneider oder Landesverräter wittern. Das Recht auf Kritik ist gegenseitig. Das sollten beide Seiten auch wissen, meine Damen und Herren.“
Hier war durchaus Kritik an Strauß und an der Bundesanwaltschaft eingestreut. Aber auch seine Kritik am „Spiegel“, die er schon in dem Brief an Ahlers geäußert hatte, kam hier zur Sprache, gleichsam aber die Erkenntnis, wie wertvoll ein solches Medium für die junge Demokratie in Deutschland sei (ebd.: 326):
„Und wenn es nun auch den einen oder anderen nicht freut, ich möchte schließlich auch zu sprechen kommen auf ein sogenanntes Nachrichtenmagazin, das seit rund zehn Jahren in Hamburg erscheint. Man mag im einzelnen zu ihm stehen, wie man will – mir persönlich schmeckt vieles nicht, was da geschrieben wird und vor allem, wie es geschrieben wird. Aber ein entscheidendes Verdienst kann dieser Zeitschrift nicht abgestritten werden; denn sie hat durch ihre bloße Existenz mitgeholfen, die Ausbreitung des Untertanengeistes ebenso wie den Übermut mancher Mächtigen in Schranken zu halten, in erträglichen Schranken zu halten.“
Fazit
Neben der spitzen Anspielung auf Strauß und wohl auch Adenauer ist bemerkenswert, wie kritisch Schmidt vor allem den Stil des „Spiegel“ bewertete. Und dennoch verteidigte er den „Spiegel“ auch an dieser Stelle ob seiner Verdienste für die Demokratie. Aus dem gleichen Grund hatte er in der gesamten Affäre nicht etwa auf Seiten der Bonner Regierung, sondern auf Seiten des Hamburger Nachrichtenmagazins gestanden. Das lag auch daran, dass sich Schmidt als einer der wenigen Politiker seiner Zeit mit den Medien auskannte und sie auch für sich zu nutzen wusste (vgl. ausführlich Birkner 2013 – Im Erscheinen). Davon zeugt zum Beispiel auch, dass er dem neuen Landespressegesetz größere Publizität verschaffte, indem am 31. Januar 1964 in der Zeit unter der Überschrift „Privilegien und Pflichten der Presse“ Ausschnitte aus seiner Rede erschienen.
Insgesamt, so der Historiker Frank Bösch (2011: 209), seien auf die „Spiegel“-Affäre einige Landespressegesetze gefolgt, „die die journalistische Arbeit stützten“. Daran hatte der Hamburger Innensenator Helmut Schmidt großen Anteil. Seine Rolle im Kampf um die Pressefreiheit Anfang der 1960er Jahre ist deshalb nicht zu unterschätzen. Ebenso ist davon auszugehen, dass der aggressive Zugriff des Staates auf den „Spiegel“, inklusive der persönlichen Erfahrung der strafrechtlichen Verfolgung, Schmidt nachhaltig beeinflusst hat. Seiner Karriere jedenfalls konnten die verleumderischen Kräfte nichts anhaben. Er kümmerte sich weiter intensiv um Verteidigungsfragen, sein zweites Buch hierzu, Strategie des Gleichgewichts – Deutsche Friedenspolitik und die Weltmächte, erschien 1969. Im gleichen Jahr wurde er tatsächlich Verteidigungsminister im ersten Kabinett Brandt und 1972 dann Finanzminister im zweiten Kabinett Brandt. Nach dessen Rücktritt am 6. Mai 1974 im Zuge der so genannten Guillaume-Affäre wurde Schmidt am 16. Mai 1974 zum 5. Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. 1976 und 1980 wurde er jeweils wiedergewählt, bevor er am 1. Oktober 1982 durch ein konstruktives Misstrauensvotum abgewählt wurde.
Sein Umgang mit den Medien als Kanzler war bemerkenswert. So schlug er am 26. Mai 1978 in der Zeit einen fernsehfreien Tag vor. Spätestens seither galt er als scharfer Kritiker der Medien, seine Bezeichnung von Journalisten als Wegelagerer (vgl. u.a. Schmidt 1996: 217) ist bekannt. Dabei meint er heute, dass er dieses Wort schließlich nur ein Mal gebraucht habe, und dann hätten die Journalisten es vielfach voneinander abgeschrieben (Helmut Schmidt im Gespräch mit dem Autor am 6. Januar 2011).
Genauer betrachtet war Schmidt die Wichtigkeit der Medien für unsere Gesellschaft spätestens seit der „Spiegel“-Affäre dramatisch bewusst. Entsprechend besorgt war er um Fehlentwicklungen in diesem Bereich und sprach Missstände offen an. Doch dass er am 1. Mai 1983 den Posten des Mitherausgebers bei der Zeit angetreten hat und diesen noch immer mit viel Engagement ausfüllt, ist wohl der beste Beweis für seine Wertschätzung für Qualitätsjournalismus. Und diese galt immer auch – bei aller Kritik – dem „Spiegel“.