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Virtually unsinnig

Illustration: Christiane Strauss

In einem halben Jahr, im Juni 2013, darf die virtuelle Welt Second Life ihren zehnten Geburtstag feiern. So jung und schon vergessen: Als Next Big Thing galt Second Life nur ein paar Jahre. Schon seit 2007, als ein Journalist wohl gerade noch rechtzeitig ein Buch darüber publizierte, sanken die Zahlen der aktiven Nutzer. Womöglich gibt es sogar einige digital natives, die mit dem Begriff Second Life gar nichts mehr anzufangen wissen. Heute trifft man sich eben lieber ohne Avatar, also „irgendwie realer“, auf Facebook.

Doch wie es immer ist: Sobald die Welt an etwas das Interesse verliert, gerät es in den Blick der Forschung. So auch die „Online-3D-Infrastruktur“ (Wikipedia) Second Life. Anna M. Lomanowska und Matthieu J. Guitton, zwei Wissenschaftler aus Quebec, stellten sich die Frage, wie nackt ein Mensch durchs Leben gehen würde, wenn er nicht von Normen und Werten gegängelt würde, sondern tun und lassen könnte, wie und was er wollte. Und erkannten Second Life als das perfekte Forschungsgebiet. Dort nämlich, so die Autoren, hinderten keinerlei klimatische, soziale, kulturelle oder physische Variablen den Menschen am eigenwilligen An- bzw. Ausziehen.

Das Ergebnis der Studie ist tatsächlich überraschend eindeutig: 71 Prozent der männlichen Avatare bedecken ihren Körper zu mindestens 75 Prozent – bei den weiblichen sind das gerade einmal fünf Prozent. Und: Ein Prozent der männlichen Avatare bedecken ihren Körper zu höchstens 24 Prozent – bei den weiblichen sind es satte zehn Prozent. Anders gesagt: In Second Life sind männliche Avatare ziemlich zugeknöpft, weibliche dagegen überaus offenherzig. Letztere geben sich statistisch betrachtet halb so nackt wie das andere Geschlecht.

Aus diesen Zahlen ziehen die Wissenschaftler den – für mich völlig überraschenden – Schluss, den man bereits dem Titel der Studie entnehmen kann. Sie heißt „Virtually Naked: Virtual Environment Reveals Sex-Dependent Nature of Skin Disclosure“. Durch eine statistische Auswertung der Avatar-Körper wollen Lomanowska und Guitton bewiesen haben, dass Frauen von Natur aus gerne mehr Haut zeigen (würden) und nur von den klimatischen, sozialen, kulturellen oder physischen Bedingungen davon abgehalten werden.

„Natürliche“ Verhaltensweisen in einer virtuellen Welt

Die Medizin-Journalistin Lindsay Abrams, die in „The Atlantic“ die Studie kurz zusammenfasst, scheint sich über dieses Ergebnis sogar zu freuen. Sie endet ihren Artikel mit den Sätzen „Maybe women just liking showing off their skin more. And maybe there’s nothing wrong with that.“ Daran, dass zwei Wissenschaftler in einer virtuellen Welt „natürliche“ Verhaltensweisen entdeckt haben wollen, ja, deren Bewohner zu den „Eingeborenen“ von heute erklären, denen ein gleichsam ethnologischer Blick gebührt, scheint sich niemand zu stoßen. Die Tatsache, dass das Geschlecht des Nutzers zu immerhin einem Viertel nicht dem des Avatars entspricht, spielte sogar explizit keine Rolle.

Es mag ja sein, dass einige Frauen sich zu dick fühlen für kurze, enge Röcke oder dass manche Musliminnen lieber in Hot Pants statt verschleiert durch die Straßen spazierten oder dass ein paar Mädchen den Bikini gerne als Alltagsklamotte etablierten. Mag alles sein. Aber mit „Natur“ hat das doch bitte wenig zu tun. Ohnehin ist die Ähnlichkeit der Frauen-Ikonen in Second Life mit den Frauen-Ikonen anderer Computerspiele viel zu verblüffend, als dass man die mediale Verfasstheit dieser Rollenbilder einfach ignorieren könnte und dürfte. In Second Life wird nicht irgendeine wie auch immer geartete „Natur“ ausgelebt, sondern werden zuallererst Stereotypen wiederholt, die das Genre seit Jahrzehnten prolongiert.

Und so selbsttätig, wie das vielleicht klingen mag, pflanzen sich diese Klischees beileibe nicht fort. Als die kanadisch-amerikanische Bloggerin Anita Sarkeesian im Juni dieses Jahres per Kickstarter zur Unterstützung ihres Projekts „Tropes vs. Women in Video Games“ (eine Fortsetzung ihre Video-Serie „Tropes vs. Women“) aufrief, erntete sie zwar viel Zustimmung und mehr als genug Geld – aber auch eine Menge Hass, den als Shitstorm zu bezeichnen eine grauenvolle Verharmlosung darstellte (hier ein SZ-Artikel, hier ein TV-Beitrag darüber).

Mit welch harten Bandagen und brutalen Mitteln die männlichen Gamer fechten, damit sich bloß nichts ändert in der Darstellung weiblicher Figuren in „ihren“ Spielen, hätte man sich zuvor wahrlich nicht albträumen lassen. Ob auch das nur eine „natürliche“ Verhaltensweise ist, werden die beiden kanadischen Forscher bei Gelegenheit hoffentlich mal untersuchen. Ob Lindsay Abrams von „The Atlantic“ dann erneut seufzt: „Maybe there’s nothing wrong with that“?