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Vom Fehlen der Zeit

Wenn der twitternde Sprecher der Bundesregierung rund 62.000 Follower vorweisen kann, dann zeigt das zunächst vor allem eines: die Kleinteiligkeit der heutigen Kommunikation. Wenn das „heute journal“ mit der Alzheimer-Erkrankung von Rudi Assauer eröffnet wird, verbunden mit einem Hinweis auf dessen Auftritt in der ZDF-Morgensendung „Volle Kanne“, wird die Boulevardisierung auch des öffentlich-rechtlichen Fernsehens überdeutlich.

Die Fragmentierung durch das Netz ist immens, die Gesellschaft teilt sich auf in unendlich viele „Communities“, Gemeinschaftserlebnisse und -erkenntnisse geraten in den Hintergrund. Belege dafür sind rückläufige Marktanteile traditioneller Fernsehprogramme, erodierende Auflagen von angestammten Printmedien. Die Welt der Mediennutzer teilt sich ein in die unter und die über Vierzigjährigen; die zweite Gruppe, eine Informations-, Wissens- und Wertegesellschaft, ist noch vor der digitalen Revolution groß geworden, ein Zeitungsabo war (und ist für sie oft noch) eine Selbstverständlichkeit – mit entsprechend abweichendem Nutzungsverhalten zur ersten Gruppe, für die Internet, Facebook, Twitter, Flickr, SMS, Smartphone und Tablet-PC und sofort zur Grundversorgung zählen, und die mit Unterhaltungsgesellschaft sicher nicht überzeichnet beschrieben ist.

Jeder kann sich heute seine digitale Welt selbst zuschneiden, Inhalte zulassen oder ausblenden, sie ständig aktualisieren. Eine Seite einer gedruckten Zeitung ist immer auch eine Überraschungstüte, kann aber in dieser Hinsicht nicht mithalten.

Jedes Zögern ein Zeichen von Schwäche

Schaut, wer keine Zeitung mehr liest, automatisch ins Internet? Zu befürchten ist eher ein Vakuum: Was bei der Zeitungsnutzung wegfällt, wird wohl nicht durch das Internet kompensiert, zumal soziale Netzwerke eben einen sehr begrenzten Bereich an Nachrichten abbilden. Auch ein Shitstorm ist keine nationale Angelegenheit. Auf diese Gegebenheiten haben sich all jene einzustellen, die kommunizieren, die für und mit Medien arbeiten, die journalistische Inhalte anbieten.

Als ich in den frühen achtziger Jahren bei der „FAZ“ anfangen durfte, zunächst mit einem Vertrag für ein Jahr als Redaktionsassistent, danach für zwei weitere Jahre als Redakteur zur Ausbildung, war die Welt einfach, klar strukturiert, ohne Internet, mit drei Fernsehprogrammen, das Dritte als eine Art Bildungsveranstaltung. Man hatte Zeit, als Journalist, als Leser, als Zuschauer. Heute, da die Welt viel komplizierter, komplexer geworden ist, hat man eine erschlagende Vielfalt, eines aber nicht mehr: Zeit. Eine Nachricht muss in der Redaktion sofort erklärt und eingeordnet werden. Nachdenken? Kommt dann später. Ein Bundesligamanager (beliebig könnten hier auch andere Handelnde eingesetzt werden) muss sofort zu einem Ereignis Stellung nehmen, jedes Zögern – man könnte es auch Nachdenken nennen – wird schon als Schwäche ausgelegt.

Machen wir uns keine Mühe mehr?

Beim Aspekt der Zeit spielt noch eine wichtige Rolle, dass das Publikum sich oft keine Zeit mehr nimmt, Inhalte in größeren Zusammenhängen und mit Ruhe zu konsumieren, deshalb ja auch die Probleme der Tageszeitung bei gleichzeitiger Bevorzugung der wöchentlichen (Sonntags-)Lektüre, wie dies bei F.A.Z. und FAS eindeutig feststellbar ist. Womöglich nimmt mit der Zeit allmählich dann auch die Fähigkeit ab, sich mit Medien und ihren Inhalten Mühe zu machen. Womit wir wieder bei Kleinteiligkeit der Kommunikation wären.

Als (Zeitungs-)Journalist darf man zudem noch feststellen, dass man in der Gesellschaft Vertrauen verliert. Dieses Vertrauen ist aber in einer Demokratie notwendig, damit die verschiedenen Teile einer Gesellschaft trotz vielfältiger eigener Interessen und zunehmend ausgeprägter subjektiver Realitätssicht miteinander kommunizieren können.

Interessant – man könnte auch sagen, verstörend oder beunruhigend – sind jüngere Untersuchungen, nach denen nur noch etwa ein Drittel der Deutschen sagen, sie vertrauten Journalisten, und dass offenbar bei den jungen Erwachsenen bis Mitte zwanzig Journalisten das geringste Vertrauen genießen.

Warum ist das so? Man hört und liest wiederkehrende Begründungen, warum Leser unzufrieden sind mit journalistischen Angeboten. Etwa das Überschreiten ethischer Grenzen. Journalistisches Nachstellen wird als inakzeptabel empfunden. Einfühlsame, aber auch distanzierte Berichterstattung – ja. Voyeuristische Darstellungen menschlichen Leids und gesellschaftlicher Abgründe – nein.  Der Vertrauensverlust gegenüber Journalisten hat möglicherweise auch etwas mit zunehmendem Misstrauen gegenüber jeder Art von „Autorität“ (heute eher ein negativ besetzter Begriff) zu tun. Wir alle bekommen es ja im Internet deutlich mit, wie jeder nicht nur Bescheid zu wissen glaubt, sondern nun auch die Möglichkeit hat, das medial zu verbreiten.

Mangel an Maß und Menschlichkeit

Misstrauen ruft auch die, aus Lesersicht, große Macht hervor. Journalisten seien keine ehrlichen Makler, ihnen mangele es an Maß und Menschlichkeit. Heute Held, morgen Depp – diese Kampagnen kennt ja leider gerade der Sportjournalismus. Andere Meinungen würden unterdrückt, wenn diese dem Tenor der Berichterstattung widersprächen. Dazu passt, dass Journalisten (angeblich) bezahlte Recherchen und Berichte im Interesse von Anzeigenkunden oder Kooperationspartnern vorgehalten werden. Es fehlt inzwischen offenbar an einer klaren Vorstellung davon, was Journalismus ist. Die Bevölkerung differenziert immer weniger zwischen Journalismus und PR. Redakteure von Kundenzeitschriften, Pressesprecher oder „Community Manager“ werden von vielen als Journalisten wahrgenommen.

Zum Thema der mangelnden Differenzierung zwischen Journalismus einerseits und PR andererseits gehört übrigens der Punkt, dass die Journalistenverbände überhaupt keine Probleme darin sehen, Vertreter von eigentlich nicht-journalistischen Professionen aufzunehmen. 

Wenn der „FAZ“ einmal im Monat das – professionell gemachte – „Red Bull“-Magazin beiliegt und gleichzeitig die „FAZ“-Sportredaktion über eine von „Red Bull“ gesponserte Sportart oder einen von „Red Bull“ geförderten Sportler berichtet, dann ist das tatsächlich Zufall – denn es gibt keinerlei redaktionelle Abhängigkeiten. Wie aber soll das der normale Leser nachvollziehen? Muss er nicht falsche Schlüsse ziehen?

Drohender Identitätsverlust

Die Kritik an zu viel Soft News und Boulevard-Journalismus ist ebenfalls laut vernehmbar, ist jedoch mit dem Blick auf den Erfolg von bestimmten Internetseiten und Fernsehprogrammen schwer nachvollziehbar. Im Zusammenhang der Rolle von Journalismus im Sport ist auch zu fragen, ob ein (großer?) Teil des Publikums überhaupt noch unterscheiden will, was der Wirklichkeit möglichst nahe kommt und was reine Vermutungsberichterstattung ist. Nehmen wir Spielertransfers im Profifußball als Beispiel: Die „FAZ“ macht sich die Mühe, zwischen Fakt und Fiktion zu unterscheiden, reden wollen viele aber eher über die unrealistischen Szenarien.

Dennoch droht dem Journalismus ein Identitätsverlust, wenn keine Neudefinition seiner gesellschaftlichen Rolle gelingt, Medienwissenschaftler haben den bedenkenswerten Begriff der „Wissensprofession“ in die Debatte geworfen.

Themen, die in der „FAZ“ intern und in der Berichterstattung diskutiert werden, sollten es doch wert sein, dass sich der Leser darauf einlässt. Ein paar Beispiele:

  • Staatliche Sportförderung, besonders durch die Bundeswehr
  • Gesellschaftliche Akzeptanz und Finanzierung von Großereignissen, speziell Olympischer Spiele
  • Die neue Stärke Asiens und arabischer Staaten sowie Russlands im Weltsport
  • Sport als Teil des nationalen Selbstbewusstseins und der Selbstdarstellung eines Landes
  • Gewalt rund um Fußball-Stadion, Hooligans und Ultras (Sonderthema ist dabei der Rassismus)
  • Die Rolle von Sport(vereinen) bei der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund und anderen gesellschaftlichen Herausforderungen
  • Spitzensportler und Überforderung (Burn-out, Depression)
  • Korruption in Sportorganisationen, besonders der Fifa
  • Fußball und andere Spielsportarten als Ziel von Wettspiel-Manipulationen
  • Der Einfluss des zunehmenden schulischen Leistungsdrucks (Stichwort G8) auf den Vereinssport von Kindern und Jugendlichen
  • Die Boulevardisierung und Kommerzialisierung der Sportberichterstattung im (öffentlich-rechtlichen) Fernsehen und auch in anderen Medien
  • Die veränderte Sportlandschaft durch neue, nicht-olympische Sportarten, die vor allem über Social Media und auch Youtube populär werden
  • Immer wieder: Doping in allen Facetten, Fallberichterstattung ebenso wie die Diskussion der Kontroll- und Präventionsmöglichkeiten

Auch Journalisten nehmen ihren Beruf heute anders wahr. Durch die zunehmende Ausrichtung am bekannten oder auch nur vermuteten Leserinteresse, erleben viele Redakteure eine Verflachung ihres Berufs. Immer engere finanzielle Spielräume der Verlage und Sender stehen dem Qualitätsanspruch entgegen und haben großen Einfluss auf das Ansehen der Medien und ihrer Macher.

Ausblick

Es gibt zweifellos noch eine signifikante Zahl von Menschen, die guten Journalismus zu schätzen wissen. Wichtig für klassische Medien – gerade die Tages-, Wochen-, Sonntagszeitungen – ist es, Meldungen und Nachrichten gut aufzubereiten, zu erklären, zu kommentieren, im Sinne von Einordnung, nicht aber im Zeichen der Emotionalisierung, weiteren Zuspitzung und letztlich Überzeichnung, was allerdings besonders jüngere Journalisten, auch wenn sie nicht bei Boulevardmedien beschäftigt sind, als Qualitätsmerkmal anzusehen scheinen.

Vor allem um junge Nutzer, die traditionell im Verdacht stehen, sich überhaupt nicht mehr um gesellschaftliche Angelegenheiten zu kümmern und in Bezug auf Medienangebote nur an leichter Unterhaltung und Ablenkung interessiert zu sein, muss man mit Sachlichkeit, Faktentiefe und Meinungsvielfalt kämpfen, nicht mit weiteren Schicksalsreportagen, substanzarmen Skandalgeschichten, nicht mit Zynismus und Sarkasmus. Letzteres führte unweigerlich zur Verschärfung der längst spürbaren Journalismusverdrossenheit in einem bedeutsamen Teil der Gesellschaft.