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Von den Medien belagert

Im November 2011 ist mein Alltag, nein, mein ganzes Leben zum zweiten Mal aus den Fugen geraten. Ich konnte nicht mehr zur Arbeit gehen und fühlte mich zutiefst erschöpft, die Ermattung fiel gar nicht mehr von mir ab, ich spürte sie schon morgens nach dem Aufstehen. Noch heute habe ich dieses Durcheinander nicht ganz verarbeitet und weiß manchmal nicht, wie ich es verkraften soll.

Im Sportjugendhaus hatten die meisten bis zu den Enthüllungen nichts von der Geschichte meiner Familie gewusst. Ich war dort einfach Semiya – nicht die Betreuerin, deren Vater ermordet worden war. Keiner der Jugendlichen hatte jemals nach meinen Eltern gefragt, sie interessierten sich für mich und mein Leben, aber dieses Interesse galt meiner Gegenwart, nicht meiner Vergangenheit.

Jetzt aber wurde meine ganze Familiengeschichte vor den Augen der Öffentlichkeit ausgebreitet. Die Jugendlichen brauchten bloß in der bei uns ausliegenden „Frankfurter Rundschau“ zu blättern, in der fast täglich ein Bericht über den Mord an meinem Vater stand. Sie sprachen mich nicht darauf an, sie verhielten sich wirklich rücksichtsvoll. Dennoch fühlte ich mich unwohl und konnte meiner Arbeit nicht mehr unbefangen nachgehen. Es war unmöglich, den Berichten zu entkommen. Sobald ich eine Zeitung aufschlug, fand ich etwas über Vater; wenn ich beim Arzt im Wartezimmer saß und eine Illustrierte in die Hand nahm, stieß ich auf einen Artikel über meine Familie; schaltete ich den Fernseher ein, schaute ich meinem Vater in die Augen.

Die Medien belagerten uns regelrecht, das Telefon klingelte ununterbrochen, offenbar wusste jeder, wo wir wohnten. Scharen von Journalisten wollten uns interviewen, von der „Berliner Zeitung“ bis zur „New York Times“. Sie fragten, wie wir uns angesichts der Enthüllungen fühlen, wie man sich vorkommt, wenn der eigene Vater verdächtigt wird, was wir all die Jahre über gedacht haben. Schließlich änderte ich unsere Telefonnummer. Aber auch danach kamen wir nicht zur Ruhe, denn nun begannen Journalisten, am Friedberger Bahnhof wildfremde Leute auszuhorchen, die sie für Türken hielten, um sie nach unserer Adresse zu fragen. Es war verwirrend und deprimierend.

Jetzt plötzlich kamen die Vertreter der Medien, um uns ihr Mitgefühl auszusprechen, klagten über den Zustand der Republik und über die allzu lange verharmloste und verdrängte Gefahr, die von den Neonazis ausgehe. Sie taten so, als hätten sie schon immer gewusst, dass die Mordserie von Rechtsextremen verübt worden war. Warum hatte dann zuvor kaum einer darüber geschrieben? Warum hatten die meisten Journalisten stattdessen jahrelang jene Vorurteile wiedergegeben, die auch den Ermittlern den Blick vernebelt hatten? Wenn wir in unserer Ratlosigkeit schwiegen, dann hatte es in den Medien immer wieder geheißen: Diese türkische Szene kann gut dichthalten und weiß ihre dunklen Geheimnisse zu hüten.

Die guten Opfer

Jetzt waren wir auf einmal keine halben Täter mehr, sondern die guten Opfer. Von allen Seiten strömten Hilfsangebote auf uns ein, sodass wir oft nicht wussten, was wir davon halten und ob wir uns freuen oder ärgern sollten. Stellen, die uns jahrelang gepiesackt hatten, schrieben uns an und wollten plötzlich die Streitereien beilegen. Etwa die Handelskammer, bei der mein Vater versichert gewesen war. Da er am Arbeitsplatz ermordet wurde, hatten wir nach seinem Tod angefragt, ob wir Versicherungsansprüche geltend machen können.

Damals wurde uns die Auszahlung mit der Begründung verweigert, dass die Hintergründe des Verbrechens unklar seien. Nun kam endlich Bewegung in die Sache, und wie es derzeit aussieht, erhalten wir den Betrag, der uns völlig rechtmäßig zusteht – elf Jahre nach dem Antrag. Aus dem Finanzamt erhielten wir einen freundlichen Brief mit der Auskunft, dass unsere Steuerschulden erloschen seien. Redakteure des „Spiegel“ entschuldigten sich, weil es in dem Magazin noch ein paar Monate vor dem Auffliegen der Terrorzelle geheißen hatte, die Morde seien „die Rechnung für Schulden aus kriminellen Geschäften oder die Rache an Abtrünnigen“.

Es kostet uns noch immer große Kraft, mit dem völligen Wandel der Öffentlichkeit uns gegenüber umzugehen. Wir wissen nicht genau, was wir von diesem Deutschland halten sollen. Darüber zu reden fällt mir besonders schwer, denn es ist noch sehr frisch. Vielleicht können wir nach dem Prozess damit abschließen.


Dieser Text ist ein Auszug aus:

Semiya Simsek,

„Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater“

Copyright ˆ 2013 Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-87134-480-0,

272 S.,

18,95 Euro