Wie die Journalistik den digitalen Journalismus unterstützen kann
Die Journalistik als Modell der Journalistenausbildung ist heute weitgehend unumstritten: Unter dem Leitbild der Integration von Theorie und Praxis wurde an Universitäten und Fachhochschulen eine Vielfalt an didaktischen Konzepten und Methoden entwickelt, wissenschaftlich reflektiert und verbessert. Absolventenbefragungen belegen den Erfolg: So würde ein Großteil der Absolventen das gleiche Fach wieder studieren; sie sehen sich als gut qualifiziert. Zudem wirkte die Ausbildungsleistung der Journalistik auch indirekt: Schon 1982 stellte Manfred Rühl fest, durch die „Entwicklung und Bewährung der Journalistik“ habe das Volontariat „bereits nachhaltige Impulse erhalten, ohne dass davon bislang ein Aufhebens gemacht worden wäre“. Theorie und Praxis integrierende Lehrbücher von Journalistik-Dozenten fanden weite Verbreitung auch außerhalb der akademischen Welt und unterstützen so auch generell die Journalistenausbildung.
Aber das Leitbild der Integration von Theorie und Praxis der Journalistik wurde in der Journalismusforschung bislang nicht konsequent umgesetzt: Einerseits gibt es Forscherinnen und Forscher, die Wissenschaft bewusst von der Praxis distanzieren und das Wissenschaftssystem ohne Wechselbeziehungen zum Journalismus sehen. Andererseits fordern Vertreter einer berufsorientierten Journalistik eine Nähe der Forschung zur Praxis und empfehlen eine Orientierung an der Medizin – mit dem permanenten Impuls für die Berufspraxis aus der Forschung. Gegenüber der Journalistik hat die Medizin jedoch einen entscheidenden Vorteil: Das Leitbild des praktizierenden Arztes entspricht dem Leitbild der akademischen Forschung – Heilung bzw. Lebenserhaltung sind oberste Maxime. Das Leitbild des Journalismus – nämlich die Herstellung aktueller Öffentlichkeit – entspricht nicht dem Leitbild der sozialwissenschaftlichen Journalismusforschung – nämlich der theoriegeleiteten und methodisch reflektierten Beobachtung, Beschreibung und Erklärung von Journalismus. Vereinfacht gesagt geht es um Beobachtungen erster und zweiter Ordnung, was nicht automatisch zusammenpasst.
Es sind zwar beide Positionen – die der Distanz und die der Nähe – berechtigt und waren in den vergangenen Jahrzehnten in vielfältiger Weise fruchtbar, aber sie stoßen an Grenzen. Es stellt sich daher die Frage nach einem ergänzenden dritten Weg, der dem Ziel näher kommt, die Journalistik als integratives Lehr- und Forschungsgebiet zu konzipieren. Ziele und Aufgaben der Journalistik werden deshalb in diesem Beitrag nicht mehr nur in einer Theorie und Praxis integrierenden Ausbildung gesehen, sondern auch in einer integrierenden Forschung, die zwar die Systemunterschiede zwischen Wissenschaft und Praxis anerkennt, die aber gerade deshalb Methoden des Transfers entwickelt, testet und evaluiert, um die Basis für evidenzbasierte strategische Entscheidungen in Redaktionen zu legen. Es handelt sich um ein explizit normatives Leitbild: Fluchtpunkt für theoretische Positionen, Methodenwahl und -entwicklung sowie Ergebnisinterpretation ist die Qualität des Journalismus.
Die neue Periode des digitalen Journalismus: Innovationsdruck in den Redaktionen
Der Journalismus gilt als „life-blood of a democracy“, als „zentrale institutionelle Struktur von Öffentlichkeit in Demokratien“ und demnach als Schlüsselberuf für die Demokratie. Doch Gewissheiten schwinden – und vieles, was bisher selbstverständlich war, wird in Frage gestellt: Der Journalismus befindet sich in einer Phase, die als Wandel, Umbruch oder Krise gekennzeichnet wird. Zwar hat sich im Laufe der Geschichte Journalismus im Detail immer wieder gewandelt, aber die letzten großen Umbrüche liegen lange zurück. Folgt man dem Periodisierungsschema für die Ordnung der Journalismusgeschichte von Dieter Paul Baumert, dann befinden wir uns nach der präjournalistischen Periode, der des korrespondierenden und der des schriftstellerischen Journalismus schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Phase des redaktionellen Journalismus – also schon seit 150 Jahren. Die Einführung elektronischer Redaktionstechnik in den 1980er Jahren hat einige Autoren animiert, die Periode des „redaktionstechnischen“ oder des „elektronischen“ Journalismus auszurufen. Doch diese Entwicklungsschritte waren keineswegs so radikal, wie wir sie jetzt mit der Digitalisierung der Medienproduktion und -nutzung erleben: Waren früher neue Medienplattformen wie Radio oder Fernsehen von den herkömmlichen Medien getrennte Kanäle und ergänzten diese komplementär (‚Rieplsches Gesetz‘), so greift das Internet auf Basis der Digitalisierung alle herkömmlichen Medien konvergent auf, ermöglicht eine vielfältige Beteiligung des Publikums an der Herstellung von Öffentlichkeit und bedroht die Finanzierungsmodelle des Journalismus. Erst jetzt – mit Beginn des 21. Jahrhunderts – ist der Umbruch so groß, dass die Periode des redaktionellen Journalismus abgelöst wird durch eine neue Periode des digitalen Journalismus.
Medienkonvergenz mit vielfältigen Auswirkungen auf Produktion und Nutzung von Print- und Rundfunkmedien; neue Endgeräte und neue Formen des Vertriebs; Finanzierungsprobleme von Medienunternehmen; Auflagenverluste, Anzeigenverluste und Einstellungen von Tageszeitungen; sinkende Anzahl von hauptberuflichen Journalisten, aber vielfältige Möglichkeiten für Bürger an Öffentlichkeit mitzuwirken – durch all diese Faktoren lautet die Kernfrage zur Zukunft des Journalismus in seiner Funktion in der Demokratie: „Drowning or Waving?“
Befürchtet werden einerseits Qualitätseinbußen und ein Verlust der Leistungsfähigkeit des Journalismus. Andererseits bietet sich eine Vielzahl von neuen Chancen durch die digitalen Möglichkeiten. Euphorisch hat dies Wolfgang Blau, ehemaliger Redaktionsleiter von Zeit Online und inzwischen Digital Strategy Director des Guardian, formuliert: „Man muss kein Idealist sein, um dem Journalismus ein goldenes Zeitalter vorauszusagen. Nie zuvor konnten Leser auf eine solche Vielzahl nationaler und internationaler Quellen zurückgreifen, um sich ihr eigenes Bild von der Welt zu machen. Nie zuvor wurden Redaktionen in so hoher Geschwindigkeit und Anzahl von ihren Lesern auf neue Aspekte oder auf Fehler hingewiesen. Nie zuvor konnten sich so viele Menschen selbst journalistisch betätigen.“
Der vielfältige und tiefgreifende Wandel übt Innovationsdruck auf Redaktionen aus, die zwischen Zuversicht, Reformwille und Resignation schwanken: Neue inhaltliche Formen und Formate, neue Organisationsformen, neue Finanzierungsmodelle werden in rascher Folge entwickelt und getestet, für tauglich oder untauglich befunden, importiert, nachgemacht, verbessert oder verworfen. Man kann diesen Beruf nicht mehr angemessen ausüben, ohne mehr zu kennen als tradierte Handwerksregeln. Systematisches Wissen über Medienentwicklung und Publikumsinteressen, Nachdenken und konzeptionelles Handeln gewinnen in Redaktionen an Boden. Das „Kopfwerk“ überwiegt inzwischen das „Handwerk“ des Journalismus. Immer wieder müssen in Redaktionen nicht nur routinisierte Publikationsentscheidungen, sondern auch strategische und konzeptionelle Entscheidungen getroffen werden, die eine faktische, wissenschaftlich abgesicherte Basis benötigen, wenn sie Bestand haben sollen.
Journalisten und Redaktionsleiter erkennen dies inzwischen und sie sehen zunehmend ein, dass eine Kooperation mit der Journalismusforschung für ihre Redaktion wichtig wäre: 169 von 195 befragten Experten sehen in einer Studie von Leif Kramp und Stephan Weichert aus dem Jahr 2012 einen Bedarf an Kooperationen zwischen Redaktionen und externen Bildungseinrichtungen, „um die Innovationsleistungen im Journalismus voranzutreiben“. Journalisten fordern zunehmend Innovationsimpulse und eine Unterstützung journalistischer Qualität aus der Universität heraus – wie zum Beispiel Tanjev Schultz von der Süddeutschen Zeitung bei einer Podiumsdiskussion auf der DGPuK-Tagung 2013 in Mainz.
Ein reformiertes Leitbild und Programm
Aber nicht nur der Journalismus ist gegenüber anwendungsorientierter Forschung offener geworden. Auch der Blick der Journalismusforschung wurde erweitert und vertieft: Die Qualitätsforschung ist inzwischen recht differenziert und bietet Basis für empirische Evidenz in der journalistischen Praxis; und der Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Redaktionen wird zum Forschungsthema, Methoden werden entwickelt und getestet. Die Zeit ist also reif, das Leitbild der Journalistik zu erweitern.
Die Position der Nähe der Forschung zur Praxis wird durch Transfer und Interaktion weiterentwickelt. Beim Ziel, evidenzbasierte Strategien im Journalismus zu ermöglichen, geht es nicht um Wirksamkeitsprüfungen wie in der Medizin und nicht um die direkte Übernahme von in der Scientific Community entstandenen Forschungsergebnissen in den journalistischen Alltag, sondern um Transferforschung, die die Bedingungen und Konsequenzen anwendungsorientierter Forschung erkundet und reflektiert. Anwendungsorientierte Journalismusforschung ist nicht als willfähriger Gehilfe jeglicher journalistischer Praxis zu verstehen, sondern hat eine Doppelrolle: Sie ist kritischer Widerpart des Journalismus, beschreibt Defizite und Fehlentwicklungen, belässt es aber nicht bei der Kritik, sondern zeigt Fakten und Argumente für neue Wege auf und erforscht Innovationen zur Verbesserung journalistischer Qualität.
Wurde in die Wissenschaft zunächst die Logik des Journalismus in das Konzept der Lehrredaktionen implementiert, so geht es jetzt um die Logik der Forschung, die evidenzbasierte journalistische Praxis ermöglichen soll. Dabei steht außer Frage, dass nach wie vor unterschiedliche Systemlogiken in ein produktives und symbiotisches Verhältnis zu bringen sind, was weder theoretisch noch methodologisch ausreichend ausgearbeitet ist.
Aus diesem reformierten Leitbild ergibt sich der Entwurf eines erweiterten Programms der Journalistik, das anhand von drei Beispielbereichen dargelegt wird:
1. Dauerhaftes Monitoring des Journalismuswandels
Die Debatte, die der Journalismus selbst und die Medienbranche zum aktuellen Wandel und Umbruch führen, ist kurzatmig und wenig evidenzbasiert. Es entstehen Mythen, Teilwahrheiten und Ideologien. Es fehlt ein langfristiges Monitoring, das mit empirischen Studien die Entwicklung des Journalismus dauerhaft untersucht und zeitnah veröffentlicht. Die Journalismusforschung hat in Deutschland dazu zwar vielfältige Ansätze vorgelegt, ist aber in Einzelprojekten recht fragmentiert oder blickt auf zurückliegende Zeiträume. Es gibt keine aktuellen belastbaren Daten, die den Journalismuswandel nachzeichnen – anders als in anderen Ländern wie den USA oder der Schweiz, wo große Forschungsprojekte den Wandel dokumentieren und analysieren.
Das Studiendesign aus anderen Ländern könnte nicht eins zu eins übernommen werden, sondern müsste an die spezifische Situation der Medien und des Journalismus in Deutschland angepasst werden. Zudem ergibt sich aus dem hier formulierten Leitbild eine weitere Anforderung: Die Ergebnisse eines solchen langfristigen Forschungsprojekts könnten nicht nur dem wissenschaftlichen Fortschritt dienen, sondern mit vielfältigen Experimenten des Transfers in die Praxis eingeschleust werden. Das Projekt könnte zudem Impulse für eine fundierte Medienpolitik geben, die sich zunehmend um die Zukunft des Journalismus sorgt.
2. Transferforschung: erste Ansätze, großer Forschungsbedarf
Die Transferforschung ist in der Journalistik erst am Anfang; sie testet und evaluiert anhand von begrenzten projektbezogenen Fragestellungen. Die unterschiedlichen Systemlogiken sowie das Changieren zwischen Kritik und Empathie zum Forschungsgegenstand bleiben ein Spannungsfeld angewandter Forschung, mit dem die Forscher mit Hilfe methodologischer Planung und Reflexion besser zurecht kommen sollten. Es gilt, „ein Reflexionsvermögen bezüglich der Chancen und Fährnisse des gewünschten Transfers aufzubauen“, wie es Vinzenz Wyss formuliert hat. Die Beispiele, die bereits jetzt dazu vorliegen, entwerfen, reflektieren und evaluieren den Transfer unterschiedlich, zeigen aber durchgehend Typen einer evidenzbasierten journalistischen Praxis auf (es gibt zweifellos weitere Beispiele; wir müssen uns aber hier beschränken):
- Eine Forschergruppe um Michael Haller hat an der Universität Leipzig das Forschungskonzept „Benchmarking“ für Tageszeitungen entwickelt und mit verschiedenen Zeitungsredaktionen durchgeführt. Mit einem auf Basis von Leserbefragungen und quantitativen Inhaltsanalysen entwickelten „Prototypen“ wurden inhaltsanalytische Vergleiche angestellt, dadurch Defizite der Berichterstattung herausgefunden und Vorschläge für eine Verbesserung unterbreitet. Haller beschreibt dies als „Anamnese – Diagnose – Therapie“, geht in seinen Veröffentlichungen allerdings nicht auf die Umsetzung der „Therapie“, also die Implementierung in Redaktionen ein. Er spricht lediglich von „Lern- und Schulungsprozesse[n], die freilich nicht leicht zu implementieren und durchzuhalten sind“.
- Die Projekte der Forschergruppe um Günther Rager an der Universität Dortmund verstanden die Journalismusforschung „als eine Art Forschungs- und Entwicklungsabteilung für die redaktionelle Praxis“. Ihnen ging es in erster Linie darum, empirische Erkenntnisse aus der Publikumsforschung für redaktionelle Verbesserungen zu nutzen. Ausgangspunkt war eine kooperative Teamarbeit, bei der Redakteure vom ersten Arbeitsschritt an als „Entwicklungspartner“ einbezogen wurden; für die Umsetzung der Forschungsergebnisse in den Redaktionen werden intensive Kommunikationswege empfohlen, wobei allerdings offen bleibt, wie dies genau abläuft.
- Ein Projekt unter Leitung von Vinzenz Wyss schleuste Qualitätsforschung direkt in eine Regionalredaktion des öffentlichen Senders Schweizer Radio DRS ein. Nach Radiosendungen wurden 20 Redakteure und 199 Hörer telefonisch befragt. Im Mittelpunkt stand eine Beurteilung nach verschiedenen Qualitätskriterien – zum Beispiel nach Verständlichkeit, Spannung oder Glaubwürdigkeit. Durch die Befragungen sollten Unterschiede in der Wahrnehmung der Qualität zwischen Journalisten und Publikum ermittelt und so die Kritik- und Feedback-Kultur in der Redaktion gefördert werden. Vinzenz Wyss hat viele weitere Projekte des Qualitätsmanagements entwickelt und zusammen mit Redaktionen getestet und unter anderem dazu beigetragen, dass private Radio- und Fernsehprogrammanbieter in der Schweiz ein Qualitätssicherungssystem einrichten und wissenschaftlich überprüfen lassen müssen, um ihre Konzession zu erhalten.
- Der methodologische Ansatz der „interaktiven Innovationsforschung“ hat den Anspruch, in einem dialogischen und zyklischen Forschungsprozess die Kluft zwischen den zwei Welten Journalismusforschung und Journalismus bewusst zu thematisieren und fallweise zu überwinden. Das Konzept habe ich in Fallstudien entwickelt und getestet. Bei einer Studie in Kooperation mit der Austria Presse Agentur (APA) in Wien zum Beispiel war der Ausgangspunkt die Feststellung von Redaktionsleitung und Forscher, dass bestimmte redaktionelle Strukturen die journalistische Qualität behindern. Ziel des Projekts war es, neue Newsroom-Strukturen zu entwickeln, umzusetzen und zu evaluieren – um sie dann wiederum zu verbessern. Schriftliche und mündliche Befragungen und Redaktionsbeobachtungen bereiteten die Innovationseinführung vor und nach. Mit einem ähnlichen methodologischen Ansatz ging eine Masterarbeit an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt vor: In Kooperation mit einer Lokalredaktion einer Tageszeitung wurde ein Leserbeirat eingerichtet, der Qualitätswünsche äußerte. Diese wurden in einem Workshop mit der Redaktion diskutiert, die konkrete Verbesserungen umsetzte. Das Ergebnis wurde erneut vom Beitrat evaluiert und in einem Workshop mit der Redaktion optimiert. Auch eine Diplomarbeit an der Universität Dortmund folgte dem Ansatz der „interaktiven Innovationsforschung“: Der Change-Management-Prozess der Deutschen Presse-Agentur beim Umzug von Hamburg nach Berlin wurde untersucht und begleitet.
- Die „Transdisciplinary Action Research“ geht ebenfalls den Weg der zyklischen Kollaboration zwischen Forschung und Redaktion: Zyklen der Reflexion und Aktion, der Diagnose und Intervention wechseln sich ab. Daniel Perrin hat diesen Ansatz entwickelt und in einem Forschungsprojekt mit dem schweizerischen öffentlich-rechtlichen Fernsehen erprobt. Als empirische Methode wird unter anderem die Schreibprozessforschung angewandt: Auf den Computern der Redakteure hält eine „Logging Software“ den Schreibprozess fest. Ergebnisse werden ausgewertet und unter anderem als Basis für Coachings verwendet.
- Auch das Projekt „Medien-Doktor“ am Lehrstuhl für Wissenschaftsjournalismus der TU Dortmund will die Kluft zwischen Journalismustheorien und journalistischer Praxis überwinden – angelehnt an ähnliche Projekte in anderen Ländern. Auf Basis wissenschaftlich erarbeiteter Qualitätskriterien werden mehrmals pro Woche medizinjournalistische und umweltjournalistische Beiträge in Print-, TV-, Hörfunk- und Online-Medien beurteilt – und das Ergebnis auf der Website medien-doktor.de mit einem Punktesystem veröffentlicht. Gutachter sind Wissenschaftsjournalisten gemäß dem Prinzip eines „wissenschaftsjournalistischen Peer Review“. Rückmeldungen von Journalisten und Redaktionen zeigen, dass sie sich nun vermehrt an den wissenschaftlich erarbeiteten Qualitätskriterien orientieren.
- In den USA gibt es eine Menge Projekte der Transferforschung, die überwiegend durch Stiftungen finanziert werden und an Universitäten angesiedelt sind. Ein Beispiel ist das „J-Lab“, das 2002 an der University of Maryland gegründet wurde und seit 2008 an der American University of Washington arbeitet – finanziert durch die Knight Foundation. Ziel ist es unter anderem, Innovationen im Journalismus zu implementieren und die Erfolgs- und Misserfolgskriterien zu erforschen. So wurden in einem Projekt bei acht Tageszeitungen und einem Radiosender Kooperationen mit Blogs initiiert. Dabei wurden verschiedene Modelle der Kollaboration getestet. In fünf Redaktionen liefen die Kooperationen auch nach der zweijährigen Projektphase weiter. Die Erfahrungen wurden evaluiert und als Empfehlungen veröffentlicht. Weitere Beispiele in den USA reichen vom Poynter Institute bis zum Nieman Lab.
3. Integration des Problems Transfer in die Journalistik-Studiengänge
Auf Basis des erweiterten Leitbilds kann das Verständnis von Journalistik als integratives Lehr- und Forschungsgebiet auch in der Ausbildung erweitert werden: Es geht dann nicht mehr nur um Integration von Theorie und Praxis, sondern von Theorie, Transferforschung und Praxis. Studierende sollen im Studium das Transferproblem kennenlernen, bearbeiten und reflektieren – weil sie dadurch Kompetenzen entwickeln, mit denen sie später, wenn sie „auf der anderen Seite“ in den Redaktionen arbeiten, anschlussfähig an angewandte Forschung und offen für Entscheidungen auf der Basis empirischer Evidenz sind. Bisherige Forschungslehrprojekte in der Journalistik haben diesen Weg durch „forschendes Lernen“ bereits zum Teil beschritten, meist allerdings ohne das Transferproblem zu thematisieren. Abschlussarbeiten auf Master-Niveau könnten bewusst als Kooperation mit Redaktionen angelegt werden – auf Basis der genannten theoretischen und methodologischen Vorarbeiten zum Transfer.
Wenn eine Hochschule im Bachelor und im Master das Hauptfach Journalistik anbietet, ist eine Schwerpunktsetzung zukunftsweisend: im Bachelor als Basis das Handwerk im traditionellen, reflexiven Sinne der Integration von Theorie und Praxis, im Master das „Kopfwerk“ als Forschung und Entwicklung unter der Maßgabe der Qualitätsförderung. Formatforschung und -entwicklung sowie Organisationsforschung und -entwicklung stehen zum Beispiel im Mittelpunkt des Masterstudiengangs „Journalistik mit Schwerpunkt Innovation und Management“ an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Auch am Dortmunder Masterstudiengang Journalistik werden in Projekten redaktionelle Innovationen entwickelt und forschend begleitet. Am Masterstudiengang Medienentwicklung der Hochschule Darmstadt sollen die Studierenden befähigt werden, den Medienwandel durch projektbezogene Forschung bewusst wahrzunehmen und aktiv zu gestalten. Auch Weiterbildungsstudiengänge können nach diesem Leitbild arbeiten: So bringen Journalisten im Master „International Media Innovation Management“, der vom Forum Journalismus und Medien Wien und der Deutschen Universität für Weiterbildung Berlin angeboten wird, die Probleme ihrer Branche oder auch konkret ihres Arbeitsumfeldes im Medienunternehmen in den Studiengang ein – und in Projekten wird empirisch forschend daran gearbeitet, diese Probleme zu lösen.
Beispiele für Projekte am Eichstätter Journalistik-Master: Studierende haben den Westdeutschen Rundfunk bei der Konzeption einer Fernsehsendung unterstützt (2011). Drei Projektteams zur Organisationsentwicklung arbeiteten mit verschiedenen Redaktionen des Bayerischen Rundfunks zusammen, überprüften die Redaktionsstrukturen und schlugen Verbesserungen vor („Bayern 3“, Redaktion Bayerncenter, Studio Regensburg, „Puls“, 2011 bis 2015). In Kooperation mit dem Donaukurier in Ingolstadt untersuchten zwei Masterarbeiten Möglichkeiten und Nutzung einer innovativen Web-App (2013). Bei der Luckenwalder Rundschau wurden in einer Masterarbeit die Einführung eines regionalen Newsdesks und deren Auswirkung auf den Zeitungsinhalt untersucht (2014). Für den Mitteldeutschen Rundfunk in Magdeburg erarbeiten die Studierenden die Website anhalts-punkte-in-bayern.de. Sie präsentierten dort innovative journalistische Formate (2013/14). Für den Bayerischen Rundfunk gingen Studierende forschungsbasiert der Frage nach, wie man das „Campusmagazin“ trimedial weiterentwickeln kann. Ein weiteres Projekt evaluierte das Weiterbildungslabor „Treffpunkt Trimedialität“ und schlug Verbesserungsmöglichkeiten für den trimedialen Prozess des BR vor (2014/15). Für den Deutschlandfunk wurde ein Nachrichtenformat entwickelt, das auf eine neue Art und Weise vermittelt und auch für eine weniger gut informierte und jüngere Zielgruppe besser rezipierbar ist (2014/15). In Kooperation mit dem Medienhaus Der neue Tag in Weiden und der Agentur Quäntchen und Glück, Darmstadt, wurden mit einer Nutzerbefragung Vorschläge für die Weiterentwicklung der Website erarbeitet.
Ein weiteres Beispiel aus den USA: Jay Rosen hat an der New York University Studierende die Zukunftsstrategien und -initiativen der New York Times untersuchen und die Ergebnisse auf der Website futurenytimes.org präsentieren lassen.
Der voll ausgebildete Journalistik-Absolvent sollte beides gelernt haben: die Standards des Journalismus, wie wir sie heute kennen, und Erfahrungen in Forschung und Entwicklung, um den digitalen Journalismus mit formen zu können – im besten Falle in Offenheit gegenüber dem Konzept einer evidenzbasierten journalistischen Praxis. Innovationsfähigkeit, Pioniergeist und der Wille zum Experimentieren sind zu einem wesentlichen Aspekt journalistischer Kompetenz geworden. Dass dies nicht beliebig vor sich geht, sondern systematisch und reflektiert mit Hilfe wissenschaftlicher Theorien und Methoden – dazu soll das hier diskutierte erweiterte Leitbild und Programm der Journalistik beitragen.