Wie gehabt! Als sei nichts gewesen!
13 Jahre lang zog ein Nazitrio namens „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) raubend und mordend durch Deutschland, unerkannt und unbehelligt. Die Sicherheitsbehörden haben total versagt, alle. Das ist die offizielle Version, eingestanden von Bundesinnenminister Friedrich, vom Chef des Bundeskriminalamtes Ziercke und vom Ex-Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Fromm. Bundeskanzlerin Merkel entschuldigte sich und versprach Aufklärung. Man muss allerdings viele Fragezeichen wegwischen, um dieser amtlichen Darstellung arglos zu folgen. Zum Beispiel: Waren die Mörder Böhnhardt, Mundlos und ihre Kumpanin Zschäpe von 1998 bis 2011 wirklich unentdeckt? Und wenn nicht, warum blieben sie dann unbehelligt?
Es gibt Ungereimtheiten, viele, zu viele. Der Untersuchungsausschuss des Bundestages versucht, das Finstere zu erhellen. Zahlreiche Journalistinnen und Journalisten recherchieren, kompetent und hartnäckig. Bei allen Berichten über das NSU-Trio und über das zweifelhafte Agieren der Behörden darf man allerdings eines nicht ausblenden: Bevor die NSU-Bande im Jahr 2000 in Nürnberg ihr erstes Opfer hinrichtete, waren im vereinten Deutschland bereits 105 Menschen aus rechtsextremen und rassistischen Motiven ermordet worden – erschlagen, ertränkt, erschossen. Warum wurde diese Gefahr dennoch so lange, so gründlich, so tödlich unterschätzt? Es ist etwas faul im Staate, oberfaul.
Am 4. November 2011 flog das Nazi-Trio in Eisenach auf. Das offizielle Entsetzen war groß. Alle Medien gingen auf Sendung. Wochen später wurde die Bundesfamilienministerin nach ihrer Meinung zu alledem befragt. Sie sei für Prävention zuständig, nicht für Mord, antwortete sie lapidar. Kristina Schröder obliegt die Hoheit über die Bundesmittel im Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus, für Demokratie und Toleranz. Sie ist eine doppelte Fehlbesetzung, von Amts wegen und persönlich. Als Vorbeuge-Ministerin müsste sie ohnehin nach viel weitergehenden Antworten suchen. Warum gibt es angesichts einer rassistischen Mordserie keinen gesellschaftlichen Aufschrei? Und was macht Menschen erneut für Nazi-Parolen empfänglich?
2011 wurde in Sachsen-Anhalt ein neuer Landtag gewählt. Die NPD scheiterte an der 5-Prozent-Hürde. Das feierten die anderen Parteien, von CDU bis LINKE, als Sieg der Demokratie. Mir fiel das wieder ein, als Prof. Stöss (FU Berlin) im Bundestags-Untersuchungsausschuss die These wagte, die NPD sei auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit. Es mangele ihr an Mitgliedern, Geld und Erfolg. Also Entwarnung? Man schaue sich die Ergebnisse von Sachsen-Anhalt genauer an. Die NPD erreichte zweistellige Wahlergebnisse – bis zu 19 Prozent – bei Arbeitslosen und prekär Beschäftigten, bei Männern bis 30 Jahre, auf dem Lande, bei Probevoten unter Schülerinnen und Schülern. In anderen Regionen – in Ost und West – finden Rechtsextreme ähnliche Zustimmung.
„Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“
Es war ein Zufall und zugleich ein Fingerzeig. Nachdem das NSU-Desaster offenbar wurde, stellten Prof. Heitmeyer (Uni Bielefeldt) und sein Team Ergebnisse ihrer Langzeitstudie über „Deutsche Zustände“ vor. Fazit: Die „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ nimmt zu, ebenso die Akzeptanz von Gewalt – inmitten der Gesellschaft. Mögliche Ursachen fassen sie ebenso prägnant zusammen: Das Soziale wird ökonomisiert, die Demokratie wird entleert. Eine Generalabrechnung mit einer Politik, die als neoliberal bezeichnet und von immer mehr Bürgerinnen und Bürgern als ungerecht und entmündigend empfunden wird. Das Neoliberale dominiert politisch und medial dennoch.
In seinem Buch „Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein“ zitiert Jeremin Riffkin USA-Wissenschaftler. Deren Umfragen liefen über 30 Jahre und waren weltweit angelegt. Sie kommen zu ähnlichen Ergebnissen. „Ist die Existenz nicht gesichert, wird kulturelle Vielfalt als bedrohlich empfunden. (…) Im umgekehrten Fall, also bei gesicherter Existenz, werden ethnische und kulturelle Vielfalt positiv bewertet, weil sie interessant und anregend sind.“ Natürlich liefern auch soziale Ängste keinerlei Rechtfertigung für rassistische Morde. Aber sie erklären vielleicht, warum so viele darauf so scheinbar gleichgültig reagieren und warum rechtsextremes und rechtspopulistisches Gedankengut durchaus Widerhall findet.
Ein Wissenschaftler-Team im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung bestätigte kürzlich: Die Mitte ist im Umbruch, instabil und schwindend. Ein Grund dafür seien beschleunigte globale Entwicklungen. Sie werden für viele immer unüberschaubarer und deshalb als diffuse Bedrohung empfunden. Genau das gibt Nazis eine Chance, warnen sie. Ihre Empfehlung heißt: „Mehr Politik wagen!“ Dazu gehören ein auskömmlicher gesetzlicher Mindestlohn ebenso wie die Umverteilung von Wohlstand und eine Neubewertung von Arbeit. Sie regen Neues an, so auch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Schließlich mahnen sie: „Mehr Europa, aber anders, nämlich sozial und demokratisch.“
Alle diese Gedanken für eine tiefergehende gesellschaftliche Prävention gegen Rechtsextremismus und Rassismus finden in der Politik und in den Medien kaum Widerhall. Schon das Wort „Rassismus“ gilt vielfach als unaussprechlich. Stattdessen sorgen verschwundene Akten und verstockte Beamte für Schlagzeilen. Natürlich müssen die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse auch dieser Schwarmdemenz nachgehen. Aber zuweilen beschleicht mich ein schlimmes Gefühl: Das NSU-Desaster war für manche offenbar nur ein TV-Thriller. Zum Schluss waren die Bösen tot, die Guten haben obsiegt und alles geht „seinen geregelten Gang“. Wie gehabt. Als sei nichts gewesen.