Wir waren ignorant, nicht blind
Der Journalist und Buchautor Christian Fuchs hat „uns“ hart kritisiert: „Wir waren alle blind“ stellt der Autor des Buchs „Die Zelle“ im Zusammenhang mit dem NSU fest – und hätte „dann mal ein paar Fragen“ an die berichtende und recherchierende Zunft. Selbstkritik tut zweifelsohne Not, aber sie sollte differenzieren, denn ein „Wir“ existiert nicht. Der Versuch, einige Antworten auf Fuchs‘ bei VOCER geäußerte Fragen zu finden.
„Wieso sind wir so staatshörig?“, fragt Christian Fuchs zu Recht – und bezieht diese Frage offenbar auch auf sich. Eine spannende Frage, er hat aber keine Antwort darauf; diese wäre aber spannend – immerhin bedienen sich Fuchs und John Goetz in dem Buch „Die Zelle“ selbst ausgiebig staatlicher Quellen.
Claudia van Laak kritisierte in ihrer Buchbesprechung auf „Dradio“ beispielsweise: „Die Autoren scheinen zu glauben, die Veröffentlichung von geheimen Ermittlungsakten sei ein Wert an sich. Beispiel gefällig? Eine halbe Buchseite lang führen sie all die Gegenstände auf, die die Ermittler im Schutt des von Beate Zschäpe in die Luft gesprengten Hauses in Zwickau gefunden haben.“
Fuchs zitiert in diesem Zusammenhang einen Artikel aus dem „Spiegel“ über die „Döner-Morde“, in dem es vor allem um mögliche Täter aus türkischen Kreisen ging. Aber waren alle „Spiegel“-Mitarbeiter und -Journalisten „blind“ und „staatshörig“? Natürlich nicht, es ist nicht sinnvoll, von „der“ Presse“ zu sprechen, sondern diese als Tausende Redakteure und Journalisten zu begreifen, die individuell handeln und entscheiden können. Genauso, wie es nicht „die“ Gesellschaft oder „die“ Politik gibt, existiert auch nicht „die“ Presse.
Ein blinder „Spiegel“-Autor?
Zu einer Analyse gehört somit auch, die Unterschiede in der Berichterstattung zu beachten. Das Hamburger Nachrichtenmagazin hatte bereits im Jahr 2000 über die flüchtigen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe berichtet. Beteiligt an diesem Artikel war der Fachjournalist Anton Maegerle, der damals schrieb:
Allein im vergangenen Jahr starben neun Menschen nach Tötungsdelikten gewaltbereiter Rechter. Das Bundeskriminalamt registrierte 1999 außerdem 602 Körperverletzungen und 36 Sprengstoff- und Brandanschläge mit rechtsextremistischem Hintergrund. Neonazi Worch nennt dies „Verbreiten von Angst und Panik“.
Über das tatsächliche Ausmaß der neuen Gefahr sind sich die Experten uneins. Versteckt sich ein Teil der harten, kampfbereiten Szene bereits im Untergrund, wie die obskuren „national-revolutionären Zellen“ in der Skin-Postille „Hamburger Sturm“ von sich behaupten? Droht Deutschland eine rechte Terrorwelle nach schwedischem Muster? […]
Regelmäßig veröffentlichen Neonazis in Szeneblättern und im Internet „Ermittlungsergebnisse“ einer „Anti-Antifa-Aktion“. Gegen Gebühr bieten Braune wie Stefan Michael Bar, 23, Namen, Adressen und Fotos ihrer Gegner an. Das jüngste Werk, das ihm zugeschrieben wird, trägt den Titel „Der Wehrwolf“. Ziel dieser „Listen“, erklärt Bar, sei Einschüchterung: „Alle, die uns terrorisieren, müssen mit Gegenmaßnahmen rechnen.“
Schon haben sich etliche gewaltbereite Kleingruppen gebildet, denen die so genannten „Jenaer Bombenbastler“ als Vorbild gelten: Im Januar 1998 hatte die Polizei in einer Garage der thüringischen Universitätsstadt die Bombenwerkstatt von Uwe Mundlos, 26, Uwe Böhnhardt, 22, und Ingrid Zschäpe, 25, ausgehoben – alle drei Mitglieder des militanten „Thüringer Heimatschutzes“. Die Sprengstofftüftler waren seither untergetaucht.
Um bei Maegerle zu bleiben: Im Jahr 1997 schrieb er gemeinsam mit Martin Dietzsch im Zusammenhang mit dem Thule-Netz, das heute wieder eine Rolle im NSU-Komplex spielt:
Gefährlich ist dieses Netz nicht wegen der Nutzung moderner Technik, sondern weil die Neonazi-Szene, aus der sich Teilnehmer und Betreiber rekrutieren, gefährlich ist und nach wie vor in ihrer terroristischen Dimension unterschätzt wird.
War Maegerle blind? War Maegerle staatshörig, weil er Einschätzungen von staatlichen Stellen benutzte, um zu versuchen, eine realistische Einschätzung der realen Gefahr durch rechten Terror zu zeichnen? Nein, nichts davon trifft zu. In dem „Spiegel“-Artikel werden viele Erkenntnisse vorweggenommen, die zwölf Jahre später in Medien und Büchern thematisiert werden.
„Warum machen wir gerade die gleichen Fehler?“, fragt Fuchs – und begeht dabei selbst diesen Fehler. Denn er übersieht in seinem Debattenbeitrag, dass eben nicht alle blind waren – er ignoriert diese Stimmen, so wie sie in den vergangenen Jahren bereits überhört und überlesen wurden. Es gab Fachjournalisten, sie heißen beispielsweise Maegerle, Röpke oder Speit, es gab Recherchegruppen wie Recherche Nord, Lotta, aida oder das apabiz, die immer wieder vor bewaffneten Neonazis gewarnt hatten. Doch diese Stimmen wurden kaum ernst genommen, weil staatliche Stellen stets abwiegelten – und die Fachjournalisten somit als linke Spinner galten, die die Bedrohung überzeichneten, um ihr Material verkaufen zu können. Es waren mitnichten alle staatshörig, es wurden denen nicht geglaubt, die staatliche Stellen für ihre Verharmlosung kritisierten.
Es gibt kein „Wir“
Es gab zudem Politiker vor allem der Linkspartei, die Recherchen von Fachkollegen ernst nahmen und versuchten, durch Anfragen Druck zu machen, Sicherheitsbehörden zum Jagen zu tragen. All diese Kollegen, all die Stimmen und Bemühungen subsumiert Fuchs in diesem „Wir“ – das es nicht gab und auch heute nicht existiert. Auch ich meine nicht, blind gewesen zu sein, sonst hätte ich nicht über Jahre Tausende Stunden unbezahlter Arbeit in ein Neonazi-Watchblog gesteckt, um das Thema stärker in die Öffentlichkeit zu heben. Nein, ich wusste nicht, dass es den NSU gab, aber ich und andere Kollegen wussten und haben stets kritisiert, dass zumeist verkürzend und verharmlosend berichtet wurde – und dass Neonazi-Terror eine reale Gefahr darstellt. Das zu erkennen, war auch keine sonderlich anspruchsvolle Leistung, um im Bild zu bleiben: die Einäugigen unter den Blinden…
Vielmehr sollten wir nun aber die spannende Frage stellen, warum Neonazi-Themen in den meisten Redaktionen und Entscheidungsträgern zumeist auf Desinteresse stießen, warum ein Neonazi-Watchblog ehrenamtlich erstellt werden musste und nicht durch große Medien gestützt sondern bei Bedarf ausgeweidet wurde? Warum das Material von Thomas Kuban, das einen tiefen Einblick in genau das Netzwerk ermöglichte, das den NSU mutmaßlich unterstützt hatte, von Redaktionen zumeist dankend abgelehnt wurde? Warum Fachjournalisten als naive linke Spinner angesehen wurden?
Entlastungsangebot
Es geht nicht darum, jetzt festzustellen: „Ätsch, haben wir schon immer gesagt!“ – sondern um eine möglichst präzise Analyse der Versäumnisse – und wie abseits der konventionellen Wege Fachjournalisten ihre Rechercheergebnisse künftig effektiver verbreiten können – so dass diese wahrgenommen werden und dafür auch Geld fließt.
Ein journalistisches „Wir waren alle blind“ scheint sich auf den ersten Blick erfrischend von den selbstverliebten Einschätzungen vieler Verfassungsschützer abzuheben, die keine Fehler gemacht haben wollen. Das Gegenteil von ganz falsch ist aber noch lange nicht ganz richtig. Fuchs übersieht die mühevolle Arbeit von Fachjournalisten, die über Jahre vor bewaffneten Neonazis gewarnt haben, es gab linke Gruppen, die den Zusammenhang zwischen Alltagsrassismus und Neonazi-Bewegung herstellten, aber ihnen war der Weg in die großen Medien versperrt. Von daher ist Blindheit auch der falsche Vorwurf, es geht um Ignoranz.
Diese Ignoranz lässt sich lokalisieren, wenn „Gutmenschenthemen“ und Beiträge über Alltagsrassismus entweder gleich abgelehnt oder in der Nacht abgesendet wurden. „Wir waren alle blind“ – das ist, insbesondere für Entscheidungsträger in den Redaktionen, ein attraktives Entlastungsangebot. Es waren nicht alle blind, Fachjournalisten haben es nicht geschafft, Redaktionen zu überzeugen – und die haben sich offenbar auch nicht überzeugen lassen wollen. Wer blind ist, kann nicht sehen, „wir“ hätten aber sehen können.