Wo der Spaß aufhört
-Prolog-
Die Protagonisten, ihre diversen Eurovionsrollen und was bisher geschah
Stefan Niggemeier, einer der profiliertesten Blogger und wohl der profilierteste Medienjournalist des Landes, präsentierte mit „bakublog.tv“ zum dritten Mal in Folge zusammen mit seinem Kollegen Lukas Heinser ein auf zwei Wochen beschränktes Vor Ort-Video-Projekt zum ESC. Das von Niggemeier selbst als „vierteljournalistisch“ eingestufte sowohl liebevolle als auch bitterböse Format, in dem es vor allem um Glanz und Elend des ESC-Personals ging, war eingebunden in das Angebot von „Spiegel Online“.
Dort war Niggemeier auch als schreibender Autor mit einem deutlich höheren Journalismusfaktor zu lesen. Längere Texte, vor allem zur Menschenrechtssituation erschienen auch im gedruckten „Spiegel“. Auf seinem Textblog stefan-niggemeier.de monierte er schon während der Vorentscheidungsshows „Unser Star für Baku“ die seiner Meinung nach zu unkritische Haltung des für die deutsche Ausstrahlung zuständigen Senders NDR gegenüber den Missständen in Aserbaidschan. Später sezierte er das Interessensgeflecht rund um das aserbaidschanische Herrscherhaus, der ESC-Veranstalterin European Broadcast Union (EBU) sowie Presse- und PR Agenturen. Eine Woche vor dem Finale postete er ein Zitat von Jan Feddersen aus der „Hamburger Morgenpost“, wonach dieser auf die Frage „Was sagen die Sänger zur politischen Lage?“ geantwortet haben soll: „Für Polit-Sperenzchen haben die meisten Künstler gerade keinen Sinn“, und löste damit ein Shitstörmchen gegen den Kollegen aus.
Jan Feddersen ist Redakteur der „taz“, wo er unter anderem über Gesellschafts- und Geschichtspolitik schreibt, aber auch über Pop und Prominente. Als Publizist und Mitglied der homosexuellen Bürgerrechtsbewegung kämpfte er in vielen Debatten gegen Diskriminierung. Er gilt als „der“ Eurovisionsexperte Deutschlands und hat drei Bücher zum Wettbewerb geschrieben, die als Standardwerke beschrieben werden. Seit Jahren ist er für den NDR zum ESC tätig, als Autor eines eigenen Blogs auf der offiziellen deutschen Grand-Prix-Seite „eurovision.de“ und als Experte vor der Kamera. Auch in der „taz“ schreibt er zum ESC. Feddersen verteidigte die Haltung der ARD in der Aserbaidschan-Berichterstattung und warnte vor einer einseitigen und verzerrenden Sichtweise auf das Land und die Rolle des Contests.
Auch er kritisierte die Menschenrechtssituation, setzte sie aber in Bezug zu der anderer Staaten und argumentierte, trotz allem sei das Land auf einem richtigen, jedenfalls nicht falschen, theokratischen oder „weissrussischen“ Weg und der Wettbewerb könne diesen unterstützen. Feddersen stütze sich bei seiner Einschätzung auf seine Beobachtungen, die er in anderen Ländern zu Menschenrechtsfragen gemacht hatte, insbesondere Russland, wo er 2009 nicht nur den ESC begleitete, sondern auch eine Schwulen- und Lesbendemonstration, bei der es zu schweren Übergriffen kam. Er bestreitet nicht, dass das Wort „Polit-Sperenzchen“ gegenüber der „Hamburger Morgenpost“ gefallen ist, verweist aber gegenüber VOCER darauf, dass das Zitat verkürzt und aus dem Zusammenhang gerissen sei. Er habe im Gespräch mit der Zeitung nicht die politische Situation verharmlost, sondern die Instrumentalisierung berechtigter politischer Anliegen zum Zwecke reiner Empörungsdramatik kritisiert.
Auf der nächsten Seite beginnt der Essay. Lesen Sie darin, worüber Feddersen und Niggemeier streiten, warum die Debatte stellvertretend für ihr Selbstverständnis ist und den Eurovision Song Contest als Anti-Zynik-Zone.
-Essay-
Es fängt schon damit an, dass man nicht eben so einfach mal anfangen kann. Das Problematische an einem Text über den Eurovision Song Contest ist, dass sich die eigene Haltung zu dem Ereignis durch die Pore jedes einzelnen Wortes durchzudrücken scheint. Fast jeder denkbare Einstieg ist somit verräterisch. Jedes geeignete Bild, jedes Zitat, jede witzige und oder geistreiche Anekdote, beantwortet eine Frage, die man sich eigentlich gar nicht, oder zumindest nicht so bald stellen möchte: „Nimmst Du das Ganze etwa ernst?“
Dabei ist dies gar nicht mal ein Text, der den ESC beschreiben will, sondern der Versuch, eine sonderbare Debatte zweier renommierter Blogger und Journalisten zu verstehen. Oder zumindest zwei Journalisten etwas besser zu begreifen, die durch den Grand Prix deutlich geprägt wurden.
Zunächst natürlich Niggemeier, der in Deutschland wie kein anderer für einen neuen Typ Journalisten steht, eines Grenzgängers, einer eigenen unabhängigen Marke.
Als „erster quasi erster BILDblog Eintrag“ bezeichnet Niggemeier rückblickend eine Glosse in der „Süddeutschen Zeitung“, in der zum ersten mal an einem konkreten Beispiel beschreibt, wie „Bild“ Dichtung als Wahrheit verkauft. Beim ESC 2001 in Kopenhagen hatte er mitbekommen, wie sich die dort für Deutschland auftretende Michelle über ein angeblich von ihr selbst täglich geschriebenes „Grand Prix Tagebuch“ wunderte.
Mit dem „BILDblog“ etablierte er drei Jahre später ein für Deutschland neues Format, das „Watchblog“. Die Seite wurde gleichzeitig auch zum Erweckungserlebnis vieler, die bis dahin geglaubt hatten, dieses Internetdings sei nicht viel mehr als eine Krabbelkiste, eine chaotische Vorstufe zum wahren Journalismus, der natürlich nur im Print zu Hause sei. Bis heute ist es eines der Hauptanliegen seines eigenen Blogs (wie „BILDblog“ mit dem Grimme Online Preis ausgezeichnet), bei den Zukunftsfragen des Journalismus nicht „klassische“ Medien gegen Online auszuspielen, sondern für einen Qualitätsjournalismus zu werben, der neue und alte Mittel und Wege optimal nützt.
Er selbst wurde spätestens dann zur Symbolfigur dieses Verständnisses, als er, der damals zugunsten seiner journalistischen Online-Projekte auf eine exponierte Position im Print verzichtete, zum Journalist des Jahres wurde. Nicht zum Online-Journalisten des Jahres wohlgemerkt! Er selber hat sich zum lebenden Beweis dafür gemacht, dass multiple Rollen innerhalb der neuen Medienwelt möglich sind, dass es geht, zwischen U und E, Koch und Kellner, Text und Bewegtbild, Redaktion und Solo, Blog und Print, sowie großen Qualitätsmarken und Nischen, aber auch zwischen Projektionsfläche und Echtmensch hin und her zu sausen.
Und auf einmal auch noch Politik. In Aserbeidschan wurde er dann auch noch der Kronzeuge des wichtigsten deutschen Nachrichtenmagazines für die Bewertung der Menschenrechtslage in einem Land, das er nur bereiste, weil dort eine Fernsehshow stattfinden sollte, über die er sonst immer eher rumgealbert hatte.
Gratwanderung in Aserbaidschan
Wenn man bedenkt, wie viele Kollegen, Redaktionen und Institutionen Stefan Niggemeier schon öffentlich auf die Grauzonen ihres Handels aufmerksam gemacht hat, staunt man, wie weit er sich selbst auf unsicheres Terrain vor wagt. Er sagt, er sei sich der Gratwanderung bewusst gewesen, die er da in Baku zu absolvieren hatte.
Er sagt, er habe für sich selbst hin und her laviert, ob er die richtigen Grenzen ziehen könne, zumal er ja das Rumalbern über die Show als solches auch nicht habe lassen wollen, gleichzeitig aber auf anderen Kanälen in anderen Rollen den analytischen Journalist und auch noch den zornigen Blogger zu geben hatte.
Im Endeffekt sei es dann viel leichter gewesen als gedacht. Als er mit Mitgliedern einer Familie gesprochen habe, die durch das Regime unter Druck geraten sind, habe sich die Frage gar nicht mehr gestellt, ob das in das ja eigentlich auf Unterhaltung ausgelegte „Bakublog“ gehöre. Und dann sagt er einen Satz, für den er dessen Urheber er – wäre er es nicht selbst – rhetorisch brillant so wundgeprügelt hätte, dass er danach eine ganze Woche lang nur Tierbabies hätte posten können.
„Ich musste es tun.„
Alles an diesem Satz ist schlimm, wenn er von einem Zyniker formuliert wird. Alles an diesem Satz ist wunderbar, wenn er von einem Menschen stammt, der frei von Zynik ist, jedenfalls soweit man das gesunderweise sein kann.
In der Blog-Debatte, die Niggemeier mit Feddersen führte, gibt es zwei Ebenen, die irgendwie nie richtig zusammen passten: Bei der einen ging es darum, wie die politische Situation in Aserbeidschan zu bewerten sei, beider der anderen, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Aber schon auf der ersten kamen sie nicht zusammen, und trotzdem diskutierten sie auch auf der zweiten, was sollen sie auch machen, wenn sie doch beide von ihrer Einschätzung auf Ebene eins überzeugt sind. Die Parameter sind die gleichen wie in allen Diskussionen über Nicht-Demokratische Staaten, um mich jetzt einmal vorsichtig auszudrücken: Wird verharmlost? Wird übertrieben? Soll man sich abgrenzen? Soll man integrieren?
Jeder bringt seine Argumente, Beweise; am Ende bleibt die Frage, wessen Einschätzung man am ehesten trauen möchte.
Jan Feddersen bekommt eine Woche vor dem ESC-Finale in den Kommentarspalten seines Eurovision-Blogs problematischen Applaus. Ein NDR-Radioreporter beglückwünscht ihn zu seinem Beitrag und endet: „Ich lass mir die Freunde am ESC auch nicht verbieten, so sehr mir das Wohlbefinden aller Menschen in Aserbaidschan natürlich am Herzen liegt.“ Feddersen widerspricht nicht, obwohl, wie Niggemeier bemerkt, es nicht die ausländischen Beobachter sind, denen was verboten wird, sondern der einheimischen Bevölkerung. Problematischer ist aber die Zuspitzung Menschenrechte (was wohl mit Wohlbefinden gemeint sein dürfte) gegen Spaß. Die einen wollen feiern, die anderen wollen meckern. Auf der Ebene ist man jetzt.
Und Feddersen ist der, der feiern will. Tatsächlich klingt seine Forderung, man müsse auch das politische Aserbaidschan während des ESC mehr integrieren als isolieren, wie ein Persilschein fürs unbeschwerte Feiern, erst recht, wenn er das Konzept Integration mit einer These begründet, die so einfach nicht zu begründen ist, erst recht nicht in einem Eurovision-Blog: „Wer sich politisch und historisch ein wenig auskennt und sich nicht von Medienhypes blenden lässt, weiß, wie erfolgreich dieses Konzept immer war und noch ist.“
Er kann kein Smalltalk, aber erklären
Es wundert einen, dass Feddersen sich nicht selbst aus der Partyecke befreit. Er ist ein politischer ernsthafter Mensch durch und durch, jemand, der seine Freunde immer auch stark darüber definiert, wie er sich mit ihnen über die für ihn wichtigen politische Fragen austauschen kann. Er kann kein Smalltalk, keine Partygespräche und deswegen kann er eigentlich auch nicht richtig Party. Auch bei banal erscheinenden Dingen scheint er irgendwo einen Sinnzusammenhang zu suchen, und es ist sein Glück ist, dass er nicht nur suchen, sondern auch finden kann.
Er ist ein guter Erklärer von Philosophie und Geschichte und steht wirklich nicht im Verdacht, die Heilsbotschaften eines Songcontestes als ein Erklärmodell der Welt zu überhöhen. Und doch sieht er den ESC als etwas, was sehr viel mehr ist als Unterhaltung: „Es passiert und offenbart sich immer auch etwas Politisches, wenn so viele Menschen unter solchen Bedingungen zusammen kommen. Und anders als im Sport geht es dabei nicht so sehr um die Momentaufnahme eines Menschen sondern um Strukturen, Systemen und Stimmungen.“
In seinem Buch „Wunder gibt es immer wieder“ arbeitet er auch das Politische des ESC heraus. Nicht nur die ganzen historischen Momente, in denen er Projektionsfläche, Spiegel, Motor politischer Entwicklungen war. Es sind vor allem die gesellschaftlichen Prozesse, die der Soziologe Feddersen beschreibt, für ihn ist der ESC „ein dauerhaftes Experiment, sich verständlich zu machen“.
„Plötzlich politisch gewordene Journalisten“
Bleibt man bei dieser Logik, ist in diesem Jahr das Experiment wieder einmal geglückt. Der Staat Aserbaidschan konnte die Menschen in Europa nicht überzeugen. Jan Feddersen ist sich jedenfalls sicher: „Die klaren Sieger dieses Jahres sind die Menschenrechtsaktivisten von Human Rights Watch. Ohne den ESC hätten sie ihre Anliegen im Hinblick auf Aserbaidschan niemals so öffentlich vernehmbar lancieren können.“
Feddersen sagt, er verstehe „die ganzen plötzlich politisch gewordenen Journalisten“ nicht. Niggemeier sagt, er verstehe Feddersen nicht: „Vielleicht ist Jan so sehr in diesem ganzen Euroviosion-Ding drin, dass er nicht in der Lage war, hinter die Kulissen zu schauen. Ich glaube, er hat ein ganz anderes Baku gesehen als ich und die meisten Leute, die sich hier vor Ort damit auseinander gesetzt haben.“
Beide würden das wohl nicht so sagen, aber wahrscheinlich ist es so: dass Niggemeier denkt, dass Feddersen im Zweifel die Politik zugunsten des ESC vergisst; und dass Feddersen denkt, dass Niggemeier nicht versteht, was das Politische des ESC ist. Beide sind Überzeugungstäter. Und weil ja der ESC möglicherweise irgendeine Rolle dabei spielt, wie sie die Welt sehen und schreiben, sollten wir uns bemühen, uns ernsthaft mit ihm zu beschäftigen. So weit das geht.
Erlauben Sie deshalb bitte einen kleinen Umweg über ein Thema, dessen Ernsthaftigkeit unbestritten scheint, nämlich Fußball, womit der ESC ja tatsächlich ein paar Dinge gemein hat: Nirgendwo sonst kämpfen Länder einigermaßen friedlich gegeneinander an mit einem so großen Aufwand und vor einem so großen Live-Publikum. In beiden Welten kann man skurrile Formen von überidentifizierter Fankultur beobachten. Und in beiden Welten ist der Journalismus ein Teil davon. Im Fußball lässt man sich das nicht ganz so anmerken, beim ESC wird Distanz nicht einmal simuliert. Die Pressekonferenz nach Lenas Sieg in Norwegen bestand im Wesentlichen daraus, dass sich Journalisten mit „Satellite“ gemeinsam glücklich besangen. Hans Hoff beschreibt die Kollegen, die sich auf den ESC-Pressekonferenzen „tummeln“, in seinem Baku-Blog auf „Süddeutsche.de“ als eigene Spezies, die im Prinzip keine Journalisten seien, „sondern reportierende Fans, die so tun, als wären sie Journalisten.“
Spätestens hier poppt sie wieder auf, die Frage vom Anfang, das „Nimmst Du das etwa ernst?“ Denn wo wäre das Problem, wo ist das Problem, wenn Journalisten sich nicht als Journalisten ernst nehmen bei einer Veranstaltung, die als solche nicht ernst zu nehmen ist?
Nach dem ESC im letzten Jahr in Düsseldorf leitete Niggemeier einen Blogeintrag so ein:
Schon als Kind habe ich mich beim Eurovision Song Contest mindestens so sehr für die Zahlen wie für die Musik interessiert. Früher habe ich meine Freunde und Eltern mit statistischen Auswertungen der Stimmen gelangweilt. Heute müssen die Leser dieses Blogs dran glauben.
Es folgt eine dieser komplizierten Rechnungen, die man so oft in seinem Blog findet, und man liest trotzdem weiter mit diesen detaillierten Herleitungen und Schlussfolgerungen und hofft, das einigermaßen kurz und korrekt rezitieren zu können. In diesem Fall ging es darum, nachzuweisen, dass die unterschiedlichen Abstimmungsergebnisse des Finales von 2011 in Ost- und Westeuropa zwar auch etwas mit nachbarschaftlicher Verbundenheit zu tun hatten, entscheidend für die höchst platzierten Titel jedoch die Tatsache sei, dass sie einen gesamteuropäischen Geschmack getroffen hätten. Was nach einer Binsenweisheit klingt, nennt er „verblüffend“, und das war es auch in sofern, als das Hallenpublikum während der Finalshow einige osteuropäischen Länder mit lautem Buhen für ihr offenbar nicht musikalisch motiviertes Abstimmverhaltens, also das vermeintliche Zuschachern von Punkten bestrafte.
Zahlen sind falsch oder richtig
Mit dem, was er „Spaß an Zahlen und Statistiken“ nennt, hat er den Buh-Rufern in der Düsseldorfer Halle das moralische Recht genommen, sich gegen diese Art der Punktevergabe zu echauffieren. Vielleicht hat er damit verhindert, dass sich dieser Unmut in den nächsten Tagen in große Buchstaben voller fremdenfeindlicher Ressentiments aufgeblasen hätte, wie das in den letzten Jahren immer wieder aus gleichem Anlass passiert ist. Vielleicht musste es aber einfach nur aufgeschrieben werden.
In seinen Blogs streitet er für Korrektheit, und zwar nicht nur da, wo die großen Schweinereien passieren, sondern da, wo die Unwahrheit, sei es aus Schlampigkeit, sei es als Lüge beginnt. Wehret den Anfängen, er, der Akribiker überprüft Altersangaben in der BILD um sie dann in BILDblog zu korrigieren.
Zahlen haben einen Vorteil, sie sind falsch oder richtig.
Jan Feddersen hat 2002 sein Grand-Prix-Buch „Ein Lied kann eine Brücke sein“ herausgebracht. Ebenso beeindruckend wie der inhaltliche Teil war für die Szene auch das letzte Viertel des über 400 Seiten starken Buches, die einzig und allein aus einer gigantischen Sammlung aus Statistiken zu Punktevergabe, Startlisten und Teilnehmertableaus bestand. Mehrere Monate benötigte Feddersen damals dafür, die Zahlen zusammenzutragen, zu werten, abzugleichen und wieder und wieder zu korrigieren. Auf die Frage, warum man das braucht, reagiert er einigermaßen verständnislos. Wenige Tage nach Baku erklärte er, wisse man beispielsweise zwar, dass es 42 mal 12 Punkte für den Sieger Schweden gegeben habe, aber man wisse immer noch nicht, wie sich die restlichen Höchstwertungen verteilten. Natürlich könne man sich das selbst zusammenrechnen, was er auch getan habe, aber das sei mühsam, und man verrechne sich leicht. In der vergangenen Woche dürften also Baku-Rückreisende auf der ganzen Welt an ihren Rechnern gesessen haben um diese letzten Fragen zu beantworten und ins Netz zu stellen. Und warum braucht man das?, frage und schreibe ich hier wirklich ganz ironiefrei.
Aber geht das? Ironiefrei?
„Nimmst Du das Ganze etwa ernst?“ ist eine Frage, um die man sich nicht herummogeln kann, wenn man das beschreiben will, was im ESC oder in seinem Schatten passiert. Wir reden über Nähe und Distanz, und da redet man nicht so gerne offen.
Den „bekloppten Zirkus“ zeigen
Ironie ist auch das Erste, was Stefan Niggemeier einfällt, als ich seine Haltung zum ESC wissen möchte. Die Sicht eines Kritikers. Auf die Frage, ob er ein ESC-Fan sei, antwortet er spontan mit „nein“: Niggemeier geht auf Distanz, sagt, dass es ihm ja schon eher darum gegangen sei, diesen „bekloppten Zirkus“ zu zeigen.
Dann sieht man ihn im „Bakublog“. Man sieht, wie er seinen Kollegen Lukas Heinser dabei beobachtet, wie der sich tanzend und singend mit den Bekloppten da drüben auf der Manegenbühne gemein macht, und Niggemeier dann „Ich bin ja nicht so gut im Fan-sein“ sagt und etwas unsicher in Richtung der mitgrölenden ESC-Partypeople schaut. Das klingt dann schon etwas näher.
Man merkt, dass sich Stefan Niggemeier so den typischen Grand Prix Fan vorstellt. So, wie Hans Hoff ihn beschreibt: anbiedernd, glucksend und laut. Dass er selbst so ziemlich das Gegenteil davon ist, merkt man auch dann, wenn man ihn vom Lesen seines Blogs „kennt“. Man kann es erkennen in fast all seinen Postings: Im Zweifel ist er immer die Spaßbremse. Korrekt, politisch wie mathematisch. Wenn der Saal buht, fängt er an zu rechnen. Dass das Ausgebuhtwerden, das Scheitern und Verlieren zu einem Wettkampf dazu gehört, akzeptiert er erst, wenn er sich davon überzeugt hat, dass auch wirklich alles mit rechten Dingen zu geht.
Es ist eine Mischung aus Akribie und einem hohen moralischer Anspruch, die man da mitliest, und man wundert sich, dass er vor der nahen Schleuderspur der Selbstgerechtigkeit immer wieder die Kurve kriegt. Er weiß selber, dass es grenzwertig ist, derjenige zu sein, „der dauernd mit dem erhobenen Zeigefinger da steht und die Fehler sieht“. Die ganz und gar liebevoll wirkende Rubrik „Flausch am Sonntag“, in der er jedes Wochenende Bilder oder Videos niedlicher Handpuppen, Hunde, Katzen und Schafe zeigt, sei auch ein bisschen aus Kalkül entstanden, um die Härte vieler seiner Blogeinträge „atmosphärisch zu relativieren“.
Wozu braucht man das?
Im letzten Jahr, als der ESC in Deutschland war, gab es an jedem Probetag eine Livesendung im Deutschen Fernsehen, wo mit wechselnden Moderatoren und wechselnden Studiogästen über die Erkenntnisse des Tages und die sich daraus resultierenden Prognosen verhandelt wurde. Einzige Konstante war Jan Feddersen, der da wie eine Art ESC-Peter-Scholl-Latour zu allen Themen abfragbar in der Kulisse saß. Er konnte alle auch noch so speziellen Fragen mit Anekdoten aus erster Hand, und wenn nicht, dann aber auf jeden Fall mit belastbarem Zahlenmaterial parieren. Es war dann immer so ein bisschen das ungläubige Staunen wie bei „Wetten, dass..?“, also nochmal: Wozu brauch man das?
Feddersen erzählt eine Geschichte, die mit Aserbaidshan zu tun hat, einen Auftritt des Landes beim ESC 2008 in Belgrad, der in den Prognosen hoch gehandelt wurde. Ihm war die Delegation im Hintergrund aufgefallen – sie wirkte frisch und schien sich intensiv mit den Folgen eines möglichen ersten ESC-Erfolgs ihres Landes zu beschäftigen – und saugte alles auf, was es da professionell und kulturell zu erfassen gab. Vielleicht war diese Situation ja hilfreich, andere Zusammenhänge besser zu verstehen. Vielleicht auch nicht. Aber um darüber weiter nachdenken zu können, sagt Feddersen, müsse er erstmal wissen, ob dies überhaupt die erste ESC-Teilnahme des Landes war und ob es danach noch weitere gegeben habe, an denen man das Beobachtete hätte hinterfragen können.
In dieser täglichen Fernsehshow im letzten Jahr hatte sich die Redaktion immer wieder nette Gimmicks ausgedacht, anhand derer die Grand-Prix-Historie näher beleuchtet wurde. Bei einem dieser Spielchen ging es darum, mit Hilfe einer Grafik darzustellen, wie viele Männer und wie viele Frauen bisher das ESC-Finale gewonnen hatten. Für jeden Jahrgang gab eine kleine Figur, die entsprechend zugeordnet werden musste, links die Männchen, rechts die Weibchen oder umgekehrt. Schließlich platzierte einer der Talkgäste eine Figur in die Mitte des Feldes, 1998 habe ja Dana International gewonnen, und bei der sei ja unklar, wie man sie hier einstufen solle. Das fanden natürlich alle sehr lustig, das Spiel hatte, hatte sich der zuständige Redakteur wohl in diesem Moment gedacht, „funktioniert“, bis zu dem Moment jedenfalls, als Feddersen sich einmischte und sagte, was denn daran unklar sei, der Fall sei doch ganz klar, Dana International sei ganz eindeutig eine Frau, die vorher ganz eindeutig ein Mann gewesen sei. Allgemeine Betretenheit, schnell ein neues Thema irgendwie, solche Eindeutigkeiten in Genderfragen sprengen dann doch ein ARD-Unterhaltungsformat.
Jan Feddersen, die Spaßbremse.
Der Spaß am Absurden des Wettbewerbs
Es gibt zwei Formen des Lästerns. Eine aus Spott und eine aus Ironie. Der Unterschied ist fein, aber er offenbart eine Einstellung zum Leben. Etwas, das treibt und alles andere mit sich zieht. Ironie ist eine Methode der Verstellung. Sie hilft, zwischen Abstand und Nähe zu changieren. Sie hilft, Nähe zuzulassen, Nähe zu suchen, ohne dass es peinlich wird. Spott ist vor allem Werkzeug des Zynismus, lehrt der Brockhaus ist einer „Haltung, Denk- und Handlungsweise, die durch beißenden Spott geprägt ist und dabei in oft bewusster Absicht die Gefühle anderer oder gesellschaftliche Konventionen missachtet“.
In einem der „Bakublog“-Videos von Niggemeier und Heinser geht es um den Spaß am Absurden des Wettbewerbs. Dann sagt Niggemeier: „Deshalb sitzen wir hier, gucken uns den ganzen Mist mal an.“ Es folgen einige köstliche Probeausschnitte wirklich absurder Darbietungen und dann wieder Niggemeier: „Albanien, meine Damen und Herren, ganz großes Pathos. Ich fürchte, das ist ein Song – also viele werden ihn einfach nicht mögen. Ich glaube, wenn man so halb hinhört am Finalabend oder am Halbfinalabend, wird er unfassbar nerven.“ Und dann: „Ich finde, wenn man hinhört, ist er grandios.“
Es folgt ein Video-Ausschnitt, die Albanerin bei der Probe, ein wirklich mondäner Auftritt, ein langer Ton zwirbelt sich langsam nach oben, Niggemeier hat Recht, man kann sich nur für schlimm oder wunderbar entscheiden, und das Entscheidende ist, ob man bereit ist, hinzuhören. Niggemeier hat sich für wunderbar entschieden und dafür, hinzuhören. Vielleicht kann er auch gar nicht anders.
Kann es nicht genau das sein, was einen Grand-Prix-Fan ausmacht: Hinhören? Wer laut mitsingt, muss irgendwann mal hingehört haben. Aber für viele Fans ist nicht die Party der ESC-„Place To Be“, sondern das Sofa. Der Ort, an dem Pathos am wenigsten peinlich ist.
Niggemeier – ein eher Alleine-Fernsehgucker – sagt schließlich:
„Wenn ich mir es richtig überlege, finde ich den ESC doch eher als Fan denn als Kritiker faszinierend.“
Anti-Zynik-Zone
Eine der Thesen, die da über die Zukunft des Journalismus im Raum stehen, ist die, dass zu dem was gesagt wird, es wichtiger werden wird, wer etwas sagt. Und zwar nicht als Medium, sondern als Mensch. „Ich musste es tun“ ist deshalb weniger mit einem „Warum?“ zu hinterfragen, sondern mit einem „Wer bist denn Du?“. Niggemeier und Feddersen haben sich angreifbar gemacht. Nach klassischen Gesichtspunkten.
Der Eurovision Song Contest ist eine Anti-Zynik-Zone. Kein gesunder Mensch, der vor 100 Millionen Menschen live singt, kann nur eine Rolle spielen, auch wenn er eine Zombimaske trägt. Kein gesunder Mensch, der Jahr für Jahr diesen Menschen dabei zusieht, wie sie ihren One Moment in Time erleben, tut dies aus Lust am Scheitern der anderen. Was die Menschen hier stillschweigend eint, ist die Sehnsucht nach Nähe, die von anderen nicht missachtet wird. Zyniker können das nicht ertragen. Der ESC funktioniert nur, weil die Würde der Beteiligten nicht angetastet wird. Er ist das Gegenteil von „Bild“, Bohlen und Vera Int-Veen. Und insofern auch eine Aussage über Menschenrechte. Deswegen sind beide hier.
Der Autor kennt beide Protagonisten seit Jahren, mit Feddersen verbindet ihn auch eine Freundschaft. Er sagt, er habe sich um größtmögliche Distanz bemüht, „soweit das als Fan möglich ist„.