Woran der Medienjournalismus krankt
Auf dem Höhepunkt der Aufregung um Christian Wulffs Verhältnis zur Wahrheit und zu den Medien machte unter Journalisten eine Wette die Runde: Tritt der Bundespräsident zurück, ja oder nein? Die Lager spalteten sich. Klar war aber: Am 13. Januar würde die Entscheidung gefallen sein. Warum ausgerechnet am Freitag, den 13.? Weil das der Start-Tag des RTL-Dschungelcamps war.
Die Frist ist längst abgelaufen, Brigitte Nielsen Dschungelkönigin und Christian Wulff noch im Schloss Bellevue. Doch die Wett-Anekdote verdeutlicht, wie Agenda-Setting in unserer heutigen Mediengesellschaft funktioniert. Denn es stimmte: Mit dem Start des RTL-Formats „Ich bin ein Star – holt mich hier raus!“ geriet die Wulff-Berichterstattung in den Hintergrund.
Bestimmendes Medienthema – sei es bei den DuMont-Blättern, der „Bild“-Zeitung, „Spiegel Online“ oder dem Branchendienst „Meedia“ – waren die elf Protagonisten der Freilicht-Realityshow im australischen Regenwald. Und seien wir ehrlich: So mancher Rezipient wird einen erleichterten Seufzer von sich gegeben haben, als die Wulfferei nachließ. Untergegangen in der ungeheuren Berichterstattungswoge rund um den Bundespräsidenten und sein mediales Gebaren waren allerdings die wenigen selbstkritischen Denkanstöße zur Macht und Ohnmacht der Medien.
Nicht nur die Causa Wulff zeigt es, auch die mangelnde Aufarbeitung der medialen Rolle bei Ereignissen wie Fukushima, der Erschießung von Osama bin Laden, dem Rücktritt und Comeback-Versuch von Karl-Theodor zu Guttenberg: Der deutsche Medienjournalismus krankt an seiner eigenen Oberflächlichkeit.
Eine schwierige Disziplin
Als Meta-Journalismus müsste er sich eigentlich herausziehen, unbequeme Wahrheiten aussprechen und dem Aktualitätsdruck sein eigenes Tempo entgegensetzen. Doch das gelingt nur an wenigen Stellen. Obwohl der technische Fortschritt die Grenzen des Medienjournalismus, etwa was den verfügbaren Platz oder die mögliche Reichweite betrifft, enorm erweitert hat, schlägt sich die Disziplin oft noch mit den gleichen Problemen herum wie vor zehn Jahren. Dabei ist ein sichtbarer, ernst zu nehmender Medienjournalismus, der auch über die Medienbranche hinaus wahrgenommen wird, ein wichtiges Indiz für eine funktionierende Presselandschaft.
Was genau ist es, das den Medienjournalismus davon abhält, diese Rolle adäquat auszufüllen? Eine Reihe von Faktoren macht diese Disziplin so schwierig:
Medienjournalismus ist Teil des Systems. In der Zeit der Durchökonomisierung journalistischer Produkte kann auch er sich nicht erlauben, am Publikum vorbeizuschreiben oder zu senden. Nur wenige medienjournalistische Publikationen sind in der luxuriösen Lage, fern von jeglichem wirtschaftlichen Druck und frei vom Verdacht irgendeiner Voreingenommenheit zu arbeiten. Eine breite Masse erreichen solche Angebote leider oft nicht.
Die Geschwindigkeit der Informationsvermittlung ist enorm gestiegen. Was morgens noch die Topnachricht war, ist mittags ein alter Hut. Wie der gesamte Journalismus muss sich auch die kleine Sparte des Medienjournalismus mit dieser Entwicklung auseinandersetzen und auf sie reagieren. Die Atemlosigkeit, die so manche medienjournalistische Website und Publikation ergriffen hat, führt zwangsläufig zu qualitativen Einbußen. Nimmt man sich wirklich die nötige Zeit für Reflexion, Analyse, Recherche, wenn es gilt, die Branchennews als Erster zu bringen?
Das Themenspektrum ist uneinheitlich. Unter Medienjournalismus fallen etwa Medienpolitik, Medienwirtschaft, Medienethik, TV-Kritiken und Personalien aus den Redaktionen. Alles, was irgendwie mit Medien zu tun hat. Gerade bei den Offline-Publikationen mit ihren begrenzten Kapazitäten heißt das: Was – vermeintlich – den wenigsten Charme hat, fällt hinten runter.
Viele Medienredaktionen gehören selbst einem großen Branchenunternehmen an. Wie soll das NDR-Magazin „Zapp“ über die Skandale beim Kika und beim MDR berichten? Was kann die „SZ“ an Hintergründen liefern, wenn ihr Gesellschafter SWMH an anderer Stelle über Monate bestreikt wird, wie jüngst beim Schwarzwälder Boten geschehen?
Hinzu kommt der alte Vorwurf: Die eigene Zunft kritisiert man nicht. Medienjournalismus muss sich immer auch dem Verdacht entgegenstemmen, Kollegenschelte zu betreiben, die Konkurrenz „runterzuschreiben“. Aber auch wenn man positiv berichtet, setzt man sich einem Verdacht aus. Lassen sich Marken wie „FAZ“ und „Spiegel“ vor den Karren der Bild spannen, wenn sie aus der Mailbox-Nachricht von Christian Wulff an Kai Diekmann zitieren?
Souveräner müssen wir werden
Mit all diesen Faktoren muss der Medienjournalismus sich nach wie vor auseinandersetzen. Insbesondere der Zustand der stark geschrumpften Medienressorts in den Zeitungen gibt Anlass zur Nachdenklichkeit. Und doch hat sich in den vergangenen Jahren Entscheidendes verändert, haben sich durch die Entwicklungen der vernetzten Kommunikation und des Online-Publizierens neue Möglichkeiten ergeben: Bloggende Journalisten und journalistisch arbeitende Blogger, Autorenportale, Podcasts, Video-Angebote und einiges mehr bereichern das Feld.
Online gibt es genug Platz für Theorien, Visionen, Reflexionen, Debatten, Empfehlungen. Journalismus und Wissenschaft rücken hier enger zusammen. Auch der Umgang mit Kritik kann durch die Zunahme argumentativ geprägter Plattformen professioneller werden. Diese Ansätze, die allerdings oft von außerhalb des etablierten Journalismus kommen, gilt es zu nutzen.
Der Medienjournalismus kann dadurch nur gewinnen. Und vielleicht eine neue Stärke entwickeln – die Stärke des souveränen Umgangs der Medien mit ihrer eigenen Rolle.