Zehn Thesen zum digitalen Medienwandel
Seit einiger Zeit herrscht in den USA, aber auch in Europa wieder Aufbruchsstimmung. Während einige traditionsreiche Zeitungshäuser – auch in Deutschland – ums Überleben kämpfen, erkennt eine neue Generation von experimentierfreudigen Journalisten, Bloggern und sozialen Netzwerkern die Herausforderungen der Digitalen Mediapolis als Chance: Die veränderte Öffentlichkeit im Internet ruft eine publizistische Avantgarde auf den Plan, die sich mit dem Rückbau der Medienbranche nicht abfindet, sondern – im Gegenteil – einen interaktiven Versammlungsort im Netz schaffen will, der zugleich das Fundament für einen zukunftsfähigen New Digital Journalism bilden könnte.
Der Wandel der Netzöffentlichkeit animiert Quer- und Vordenker, Propheten und Pioniere, Solitäre und Visionäre dazu, ihrer kreativen Energie freien Lauf zu lassen. In unabhängigen Redaktionsbüros, Medienhochschulen und Start-Ups tüfteln die „neuen Wilden“ daran, professionelle Berichterstattung mit aktiver Bürgerbeteiligung in Einklang zu bringen – und der wirtschaftlichen Notsituation erfolgreich zu trotzen. Wegweisend für ihren Erfindergeist bleibt die Frage, inwiefern das Internet die Beschaffenheit des Journalismus nachhaltig verändert. Pauschal wird sich das kaum beantworten lassen.
Fest steht jedoch, dass es immer darauf ankommt, wie man das Netz professionell einsetzt und nutzt. Denn im Vergleich zu anderen Medienkanälen weist es wesentliche Charakteristika auf, die – wenn sie sinnvoll umgesetzt werden – das Erscheinungsbild und die Qualität journalistischer Angebote erheblich aufwerten können. Auf mindestens vier Ebenen könnte sich der Journalismus handwerklich, strukturell und intellektuell verbessern:
- Neue Tiefenstrukturen erhöhen sowohl die Transparenz als auch die Güte journalistischer Recherchen,
- das Dialog-Prinzip im Netz ermöglicht dynamische, sich fortschreibende Themen und Inhalte,
- journalistische Angebote können individuell aufbereitet und zielgruppenspezifisch vermittelt werden,
- die Einbindung des Nutzers über Social Communities begünstigt die Entstehung redaktioneller Informations- und Wissensdatenbanken.
Diese vier Ebenen sind nicht der Weisheit letzter Schluss, vermutlich sind es noch einige mehr. Manche Ideen können vielleicht gar nicht realisiert oder finanziert werden, aber sie lassen erahnen, wohin die Reise gehen wird, wenn es um einen Restart des Journalismus gehen soll. Begleitet werden solche Visionen aber von einigen Gewissheiten, die sich bereits aus dem kreativen Chaos herausschälen und die folgend zu zehn Thesen verdichtet wurden:
1. Der Journalismus im Internet steht noch ganz am Anfang
Die Chancen sind so groß wie die Unwägbarkeiten: Wohin geht die Reise für den Journalismus? Niemand kennt ein Geheimrezept, wie sich die neuen Potenziale des Internet sinnvoll und umfassend für den journalistischen Auftrag umsetzen lassen. Und es herrscht eine deutlich spürbare Verunsicherung, ob die Medienwelt der nahen Zukunft überhaupt noch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dafür bieten kann.
Diese Verunsicherung sollte aber nicht in einem verzweifelten Festhalten an alten Strukturen münden, sondern in Kreativität und Experimentierfreude. Nur auf diese Weise können die neuen Möglichkeiten des Journalismus im Netz ausgelotet werden. Denn sicher ist, dass sich das klassische Rollenbild der Journalisten gerade nachhaltig verändert.
2. Riepl ist tot – toter geht’s nicht
Kein neues Massenmedium verdrängt das vorherige ganz, sondern marginalisiert es allenfalls: Wolfgang Riepls These von 1913 wurde lange Zeit als beruhigende Sicherheit gehandelt. Der Hörfunk kam, und die Zeitung blieb trotzdem. Das Fernsehen kam, und der Hörfunk fand seine Nische. Doch die Digitalisierung der Medienwelt schreitet unaufhaltsam und mit nachhaltigen Konsequenzen voran.
Die These lässt sich nun nicht länger halten. Das Internet als Supermedium saugt alle bestehenden Medien in sich auf und verändert sie – sowohl Fernsehen, Radio als auch die Zeitung. Der herkömmliche Rundfunk und die traditionelle Tageszeitung könnten durch den rasanten Medienwandel schon bald der Vergangenheit angehören. Diese Erkenntnis erfordert neue Herangehensweisen für den Journalismus.
3. Der Schlüssel zum Wissen der Welt findet sich im Internet
Die alte Welt war ein Universum des abgeschotteten Wissens. Es überlebte in Archiven, eingelagert und nur mit gezielter Recherche einsehbar. Doch die Information der Gegenwart ist zunehmend digital, sie ist online und jederzeit im Netz abrufbar. Ein riesiger Wissenspool entsteht – und schafft so für die Medienkonsumenten eine neue Informationskonstante abseits des traditionellen Nachrichtenmonopols der Medien.
Und auch die Wissensgenerierung ist nicht mehr nur Journalisten überlassen: Das Netz macht Information zum kollaborativen Element, es entsteht durch ein Zusammenspiel aus traditionellen Quellen und der Allgemeinheit der engagierten Nutzer. Das Phänomen der Wikipedia ist dabei nur der Anfang, die durch den Schwarm generierte und kontrollierte Informationsmasse wächst unaufhörlich. Journalisten müssen diese Dynamik begreifen und aktiv in ihre Arbeit integrieren.
4. Soziale Netzwerke sind die Kaffeehäuser des digitalen Zeitalters
Die Information zerfasert. Der Ursprungsort einer Nachricht im Netz ist nicht mehr als der Ausgangspunkt für eine vernetzte Reise der Informationen zu den Lesern. Denn diese suchen die Medieninhalte nicht mehr automatisch in den Angeboten der journalistischen Marken, sondern stellen sich zunehmend ihren eigenen Medienmix über entsprechende Dienste zusammen, durchforsten Nachrichtenüberblicke wie Google News oder stoßen durch Empfehlung von anderen auf Inhalte, die sie interessieren. Vor allem Soziale Netzwerke wie Facebook oder der Microblogging-Dienst Twitter und die Postings ihrer Mitglieder sorgen so für individuelle Nachrichtennetzwerke, in denen sich jeder User nach Belieben bedienen kann.
Social Communitys sind die Kaffeehäuser der digitalen Ära – und schon längst haben sie die klassischen Medienportale in Bezug auf ihre Reichweite weit hinter sich gelassen. So groß dieser Umbruch der Informationsverteilung ist, so groß sind die Chancen für Medienmarken, wenn sie die neuen Distributionswege für ihre Inhalte konsequent nutzen.
5. Blogging könnte sich als Leitprinzip durchsetzen
Die klassische Kulturkritik, die Reportage, das Interview, die Nachricht, die Meldung – all diese Genres und ihre früher harten Grenzen werden im Internet zunehmend von einer personenfixierteren, meinungsgeleiteten Vermittlung von Information überlagert. Zwar müssen traditionelle journalistische Stilformen dabei nicht zwangsläufig auf der Strecke bleiben, doch das Blogging-Prinzip schafft eine neue Authentizität, die im klassischen Mediensystem nur selten erwünscht war. Ob sich dieses Prinzip auch rückwirkend auf den Printjournalismus auswirkt, bleibt eine offene Frage.
Im Netz entsteht so jedoch ein Nebeneinander von professionellen Journalisten und artikulationsfreudigen Nutzern – die Grenzen verschwimmen auf den ersten Blick vermeintlich. Das schafft neue Herausforderungen beim Medienkonsum: Wer kann etwa noch unterscheiden zwischen nutzergenerierter Filmrezension und professioneller Kritik? Und macht das überhaupt noch einen Unterschied?
6. Das „Alpha-Syndrom“ wird im Netz seine Entsprechung finden
In einer von Tageszeitungen, Magazinen, Fernsehsendern und Hörfunk dominierten Welt waren es die Medienmarken, die dem Konsumenten Orientierung in der täglichen Nachrichtenflut gaben. Und letztlich wird sich die neue Medienlandschaft im Netz über Marken sortieren – und zwar nicht nur im traditionellen Verständnis des Begriffs. Denn die Personalisierung in der Branche nimmt immer mehr zu. Es bilden sich dynamische Hierarchien aus, die neue Meinungsführer hervorbringen – „Alpha-Blogger“, die wie ihre Pendants in der analogen Welt zuweilen eine stärkere Strahlkraft haben können, als traditionelle Marken.
Es zeichnet sich sogar ab, dass sich in diesem Zusammenhang klassische Redaktionsmodelle reproduzieren: Aus Bloggern können eigene Medienmarken werden, die sich als eigenes Geschäftsmodell in den digitalen Nachrichtenmix integrieren und mit einschlägigen Thesen und Stellungnahmen den Medienkreislauf dominieren.
7. Traditionelle Unternehmen weichen kleinen Journalismus-Initiativen
Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für den Journalismus verändern sich gerade dramatisch. Die klassischen Geschäftsmodelle der Printmedien, die auf einem lukrativen Mix aus Werbung und Vertrieb basierten, bröckeln in Zeiten, in denen Anzeigenkunden und Leser schwinden. Und es sieht danach aus, dass die goldenen Zeiten der Verlage in dieser Form nicht wiederkommen werden. Kleinen Start-up-Unternehmen könnte die Zukunft gehören, weil sie flexibler und offener neue Wege des Journalismus erkunden können und sich dadurch besser auf die sich verändernden Gegebenheiten einstellen können als die großen Verlagshäuser mit ihren schwerfälligen Strukturen.
Es gibt dabei bereits spannende Modelle, wie sich zumindest bei kleineren Projekten durch neue Finanzierungsformen wie zum Beispiel spendenfinanzierte Recherchen die Qualität des Journalismus sichern lässt. Vorausgesetzt, die Spender können keinen Einfluss auf die Berichterstattung nehmen.
8. Journalisten müssen unternehmerischer denken
Das klassische Bild des Journalisten ist angesichts der aktuellen Entwicklungen ein Konstrukt aus der Vergangenheit. Komplett von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen losgelöste journalistische Arbeit wird bald nicht mehr möglich sein. Was früher verpönt war, ist die Grundlage für das künftige Berufsbild: Hybriden Berufsbiografien im Journalismus, die zugleich publizistische Instinkte wie korporative Fähigkeiten vereinen, gehört die Zukunft.
Ob frei oder angestellt – alle Journalisten müssen nun einen Unternehmensgeist entwickeln, sich mit Selbstvermarktung und Selbstprofilierung beschäftigen, um mit neuen, innovativen Angeboten erfolgreich sein zu können. Es wird eine der großen Herausforderungen sein, dabei die traditionelle Trennung zwischen wirtschaftlicher Orientierung und journalistischer Aufgabe in eine moderne Form zu bringen, die dem gesellschaftlichen Auftrag an den Berufsstand gerecht wird.
9. Die vermeintliche Umsonst-Kultur wandelt sich zu einer „Freemium“-Kultur.
Es ist etwas verloren gegangen im Übergang von der analogen zur digitalen Welt: Die schwindenden Geschäftsmodelle der Vergangenheit lassen sich noch nicht durch neue Einnahmequellen im Netz kompensieren. Die Verlage kämpfen im von klickorientierter Suchmaschinen-Werbung dominierten Internet mit der vermeintlichen Kostenloskultur im Online-Medienkonsum. Doch die brachialen Versuche, diese Mentalität durch neue Bezahlschranken vor den Medienangeboten umzukehren, wirken oft eher verzweifelt als vernünftig.
Dabei gibt es andere, vielversprechende Modelle: Im günstigen Fall gelangen Nutzer über frei zugänglichen Content in ein Angebot, das ihr Interesse für hochwertigere und exklusive Inhalte weckt, die dann aber etwas kosten. Diese Idee folgt dem Prinzip der Anfütterung, das darauf setzt, dass es immer noch genug Menschen gibt, die an fundierten journalistischen Beiträgen interessiert und bereit sind, dafür auch zu zahlen – wenn sie erst einmal Vertrauen gefasst haben zu einer Medienmarke. Die Firma Apple ist zudem das beste Beispiel, dass Nutzer bereit sind, für die so genannten Apps Kleinstbeträge zu bezahlen, die letztlich dabei helfen könnten, auch journalistische Angebote grundständig zu finanzieren.
10. Journalismus überlebt, wenn er sich das Internet zunutze macht
Kreativität und Konversation, Interaktivität und Gemeinschaft sind die wichtigsten Merkmale für einen zukunftsweisenden Journalismus. Publizistische Kooperations- und Kollaborationsmodelle sind dabei unausweichlich: Meta-Blogs, Social Communities und Open-News-Plattformen, auf denen Nutzer und Journalisten gemeinsam an journalistischen Inhalten arbeiten, bestimmen die Arbeitsweisen und Darstellungsformen des zukünftigen Journalismus.
Das bedeutet nicht, dass Nutzer nur als unbezahlte Bürgerjournalisten ausgenutzt werden, sondern dass sie als gleichwertige Informationsgeneratoren und -zulieferer zu verstehen sind. User können die professionelle Arbeit von Journalisten als Augenzeugen, Zuarbeiter, Informanten und Netzwerker sinnvoll ergänzen. Durch die Interaktionseigenschaften des Internet stehen Begabungen und Neigungen der Nutzer stärker im Mittelpunkt. Anders als bei analogen Medien können Journalisten durch Hintergrund-Informationen und Reaktionen des Publikums die sprachlich-inhaltliche Ambiguität ihrer Angebote verringern und deren Transparenz steigern.
Dies erfordert jedoch ein neues Selbstverständnis der Medienschaffenden. Die Zeiten, in denen Journalisten ihre Berichterstattung als Sendemodell ohne Rückkanal begreifen konnten, sind unwiederbringlich vorbei.