Zur Schizophrenie des Sportjournalismus
Medienunternehmen westlichen Typs verfolgen maßgeblich zwei Ziele: Als soziale Institution sollen und möchten die Massenmedien Werten wie Vernunft, Freiheit, Wissen, Mündigkeit dienen. Als marktwirtschaftliches Unternehmen sind Vorgaben und Ziele, hohe Reichweiten, werbliche Einnahmen und Auflagenstärke gefragt. Diesen beiden, oftmals gegensätzlichen Zielvorstellungen zu dienen, kann man nach Siegfried Weischenberg als „eingebaute Schizophrenie“ im Journalismus bezeichnen.
Bei einem näheren Blick offenbart sich dieses ökonomisch-publizistische Spannungsfeld in nahezu allen journalistischen Bereichen. Besonders stark scheint es jedoch in der Sportberichterstattung ausgeprägt zu sein. Maßgeblich hängt dies mit der außergewöhnlichen Massenattraktivität der Sportberichterstattung zusammen, die aus ökonomischer Perspektive besonders wertvoll ist. Einige Beispiele sollen dies kurz verdeutlichen:
- Spektakuläre Mediensportereignisse werden milieuübergreifend in der Bevölkerung verfolgt. Errechnete Sinusmilieus bezüglich der Zuschauerzusammensetzung bei Fußball-Übertragungen zeigen dies sehr deutlich auf. Werbebotschaften können somit besonders gut in der Bevölkerung gestreut werden.
- Spektakuläre Mediensportereignisse werden kulturübergreifend stark konsumiert. Das Fifa-WM-Finale 2010 schauten sich laut der „Viewer Track“-Studie 2010 weltweit rund 329 Millionen Menschen im TV an, die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2008 in Peking verfolgten knapp eine Milliarde Menschen in 55 Ländern.
- Spektakuläre Mediensportereignisse bieten eine hohe Nachhaltigkeit. Sie werden von der überwiegenden Mehrzahl der Rezipienten über Jahre hinweg regelmäßig konsumiert. Eine werbliche Ansprache ist somit kontinuierlich möglich.
- Spektakuläre Mediensportereignisse werden in sehr starkem Maße planmäßig konsumiert. Das sportliche Ereignis sorgt zwar für einen offenen Ausgang, der Zeitpunkt des Sportereignisses ist dabei schon weit im Vorhinein festgelegt. Werbliche Maßnahmen können somit gut geplant eingesetzt werden.
- Spektakuläre Mediensportereignisse bieten in der Regel ein stark unterhaltendes, ungezwungenes und damit vorwiegend positiv empfundenes Umfeld. Die Werbung, die sich vorwiegend unterhaltend darstellt, hat somit ein attraktives Werbeumfeld.
Lukrativ und gut für die Demokratie
Entsprechend sind spektakuläre Sportereignisse nicht nur sehr gut geeignet, Sozialisationsbotschaften wie demokratisches Verständnis, Fairness/Toleranz, Weltoffenheit zu einer breiten Bevölkerungsschicht zu transportieren. Die nachhaltige sowie äußerst starke Massenattraktivität ist auch für marktwirtschaftlich orientierte Unternehmen höchst lukrativ. Werbetreibende Unternehmen sehen die Möglichkeit, eine große Anzahl an Menschen mit ihren Werbebotschaften zu erreichen, in dem sie im Umfeld der Sportberichterstattung wahrgenommen werden. Es gibt kaum eine bessere Kommunikationsplattform für Werbebotschaften: eine milieu- und kulturübergreifende sowie plan- und regelmäßige Ansprache einer potenziellen Käuferschaft ist ansonsten kaum realisierbar.
Aus ökonomischer Perspektive scheint es eine logische Konsequenz, eine möglichst starke Einflussnahme auf die Sportberichterstattung auszuüben, um werbliche Botschaften möglichst effektiv einsetzen zu können. Doch in welchem Umfang und mit welchen Maßnahmen wird dies getan?
Einflussnahmen auf die Produktionskette
Tatsächlich lässt sich beobachten, dass werbetreibende Unternehmen in sehr starkem Maße versuchen, die Sportberichterstattung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Wie stark die Einflussnahme bereits ausgeprägt sind, lässt sich erkennen, wenn man einen näheren Blick auf die werblichen Einflussnahmen auf die sportjournalistische Wertschöpfungskette im TV-Sektor wirft.
Nach Wirtz (2009) lässt sich die Wertkette in TV-Unternehmen in fünf Stufen unterteilen. In einer ersten Stufe werden die benötigten Input-Faktoren beschafft: Moderatore, Redakteure, Technik, Beiträge und Werberaumleistungen. Der Beschaffung folgt in einer zweiten Stufe die Programmproduktion. Kernaufgabe ist hier die Planung, Steuerung und Ausführung der Produktion zu verwirklichen. Mit Format-, Film- und Sportrechten kann aufbauend auf der Produktionsstufe ein Programmhandel betrieben werden. Der Handel mit diesen Rechten ist Inhalt der dritten Stufe der Wertkette. Die Zusammenführung einzelner Beiträge und Sendungen zum Programmablauf, die Programmgestaltung und Platzierung von Werbespots bilden die vierte Stufe der Wertkette. Auf der fünften schließlich wird das erstellte Programm im Rahmen der Programmdistribution gesendet.
Eine nähere Betrachtung der sportjournalistischen Wertkette zeigt sehr starke Beeinflussung seitens PR und Werbung auf den ersten vier Stufen:
Auf Stufe 1 (Beschaffung der Input-Faktoren) lässt sich mitunter eine sehr starke Abhängigkeit der TV-Basissignal-Herstellung beobachten. Zahlreiche Sportverbände – wie beispielsweise in der Formel 1-Berichterstattung zu beobachten – produzieren das Bildbasissignal selbst. Journalisten sind somit lediglich noch in der Lage, das Live-Bild auszustrahlen, verändern dürfen sie es oftmals nicht. Und dies nicht einmal in Nuancen.
Auf Stufe 2 (Programmproduktion) zeigt sich ein hoher Anteil an Bartering– bzw. Programming-Maßnahmen. Ein Musterbeispiel für Brandcasting – der Begriff setzt sich aus „broadcasting“ und „brand“ zusammen und bezeichnet die Verbindung von redaktionellem Inhalt und werblicher Kooperation – im deutschen Fernsehen ist eine 13-teilige Sportartikel-Soap namens „The Road to Sydney“. Der Sportartikelhersteller Adidas ließ diese für die Olympischen Spiele 2000 in Sydney herstellen, die öffentlich-rechtlichen sowie privatrechtlichen TV-Sender strahlten die Produktion aus.
Auf Stufe 3 (Programmhandel) zeigen sich zunehmend Koppelgeschäfte zwischen Sportorganisationen und TV-Sendern. Die European Broadcasting Union (EBU) verpflichtete sich beispielsweise laut „Welt Online“ vom 23. August 2008, bei der Übertragung der Olympischen Spiele 2008, dass übertragende Sender eine PR-Reportage des IOC mindestens dreimal ausstrahlen. Unter Punkt 7e des Vertragswerkes steht demnach, dass der 52-minütige Film ohne Werbeunterbrechung gezeigt werden muss. Er werde vom IOC produziert und beschäftigt sich mit dem IOC und der olympischen Bewegung.
Auf Stufe 4 (Programmgestaltung) zeigen sich aufgrund der Modalitäten auf Stufe 3 damit starke Abhängigkeiten von Vertragsmodalitäten und damit mögliche Einflüsse seitens Rechteagenturen hinsichtlich der Planung und Zusammenstellung des Sendeablaufs.
Die Begrenztheit ethisch-moralischer Instanzen
Aufgrund dieser Zusammenhänge stellen sich natürlich zunehmend die Fragen: Sind Sportjournalisten überhaupt noch in der Lage, sich gegen solche Einflussnahmen zu wehren? Inwiefern sind sie für PR- und Werbeeinflüsse ethisch verantwortlich zu machen?
Eine Ethik unterstellt, dass jeweils immer ein Einzelner verantwortlich gezeichnet werden kann. Nach Weischenberg müssen Handlungen individuell zurechenbar sein, wenn Moralisierungen greifen sollen.
Doch ein solcher verantwortungsethischer Ansatz, wie ihn einst der Soziologe Max Weber 1919 vorschlug, scheint in der momentanen Situation nicht praktikabel. Sportjournalisten haben ihre Bedeutung als Schleusenwärter in starkem Maße eingebüßt. Ihre journalistischen Beiträge werden von einem schwer durchschaubaren Gemisch von Daten, Informationen und Kommunikationen gelenkt, auf die sie als Individuen kaum noch (bis gar keinen) Einfluss mehr haben. Individualethische Ansätze, wie sie von vielen Sportjournalisten/Verbänden/Vereinigungen formuliert werden, können in der heutigen Situation kaum noch greifen.
Fazit
Überspitzt formuliert, kann man die Frage stellen: Leidet der Sportjournalismus unter Auflösungserscheinungen? Wird er maßgeblich von PR und Werbung gelenkt? Der vorliegende Beitrag zeigt auf, dass die werblichen Einflüsse nicht nur sehr stark sind, sondern sich auf vielen verschiedenen Ebenen wiederfinden lassen und die entwickelten ethischen Abwehrmechanismen seitens des Sportjournalismus kaum greifen (können). Handlungsbedarf ist vonnöten, um Grundmuster eines moralisch-ethischen Verhaltens unter heutigen Bedingungen verankern zu können und dem Sportjournalismus in Zeiten von (ersten) Auflösungserscheinungen wieder stärker auf die Beine zu helfen.