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„Zwanzig Jahre Arbeit schützen nicht vor Fehlern“

Täglich grüßt der Spezialist: Im Interview mit VOCER spricht Elmar Theveßen vom ZDF über Fachleute als Krisen-Erklärer, Fehler im Geschäft mit dem Expertenwissen und fordert mehr Zeit für Hintergrundrecherche.


Sie sind Leiter der ZDF-Hauptredaktion „Aktuelles“, stellvertretender Chefredakteur des ZDF und werden bei Ihrem Sender zudem als Terrorismusexperte geführt. Wer hat Ihnen diesen Titel gegeben?

Ein cleverer Kollege, der meinte, dass man denjenigen, der die Expertise hat, mit einem solchen Titel belegen sollte, um klarzumachen, dass es eine eigene Ressource innerhalb des ZDF gibt. Entstanden ist das nach dem 11. September 2001, weil ich schon durch meine Arbeit in den Jahren zuvor diese Expertise erworben habe und nach den Anschlägen dann sehr schnell sowohl Bilder als auch Informationen und Zugänge zu Informationen hatte, um diese Dinge dann auch im Studio zu erklären.

Elmar Theveßen, Fernsehjournalist und  © ZDF
Elmar Theveßen, TV-Journalist
und Terrorismus-Experte
© ZDF

War der 11. September so eine Art Schlüsselmoment für das Expertentum in den Medien?

Nein, ich glaube nicht, das gab es vorher natürlich in anderen Bereichen schon, zum Beispiel Finanzen oder Wirtschaft. Es ist nur was Neues entstanden insofern, dass man nicht mehr nur für ein breites Ressort Expertise brauchte, sondern für ein konkretes Problem wie in diesem Fall den islamistischen Terrorismus. Weil das, was da passiert, so surreal und komplex ist. Und das ist schon neu. Nachdem wir angefangen hatten, diese Expertise in den Sendungen auch wirklich hervorzuheben, kamen andere Medien auf den Gedanken, dass das jetzt wichtig wäre. Das ist nicht abfällig gemeint, denn es ist ja sinnvoll, komplizierte Dinge auf diese Weise klarer zu machen. Wobei man bei manchen schon den Eindruck bekommt, dass eher das Etikett wichtig ist und nicht die Expertise, die dahinter steht.

Was ist die Rolle von Fachleuten in Krisensituationen?

Das Erklären schwieriger Sachverhalte. Je komplexer und komplizierter die Welt wird, desto mehr haben Medien und insbesondere öffentlich-rechtliche Medien den Auftrag, dieses verständlich zu machen. Deswegen ist der Experte nicht einer, der eine Meinung kundtut oder einfach nur eine Einschätzung gibt, die meinungsgefärbt ist, sondern er sollte ganz klar derjenige sein, der versucht, die Dinge verständlicher zu machen. Dafür muss er allerdings wie jeder Experte auch außerhalb der Medien entsprechend viel Zeit aufwenden für Recherche, vielleicht auch fachwissenschaftliche Arbeiten an dem Thema. Und ich glaube, er muss auch ein paar Voraussetzungen dafür mitbringen, die nicht von vornherein in einer journalistischen Karriere vorhanden sind.

Die da wären?

Eine Möglichkeit wäre eine passende akademische Vorbildung. In meinem Fall ein Studium der politischen Wissenschaft. Dabei habe ich Seminare zum Thema Extremismus/Terrorismus bei einem der Experten zu diesem Thema, Prof. Manfred Funke, besucht und entsprechende Semesterarbeiten geschrieben.

Gerade im Fernsehen sind Experten nicht einfach nur Interviewpartner, sondern können ständige Begleiter durch ein länger anhaltendes Krisenereignis sein, wobei sie oftmals stark emotionalisieren. Wo bleibt hier die journalistische Objektivität?

Der Experte ist nicht derjenige, der absolute Wahrheiten verbreiten sollte. Es ist natürlich richtig, wie Sie sagen: Je länger er in einer laufenden Krise immer wieder im On auftaucht, desto höher wird seine Glaubwürdigkeit, sofern denn seine Einschätzungen auch mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Das ist natürlich auch eine Gefahr. Aber bei uns ist es in der Regel nicht so, dass wir den einen Finanzexperten die ganze Zeit im Programm haben, sondern auch mal einen, der eine möglicherweise ganz andere Ansicht vertritt. Dazu kommt, dass auch die Korrespondenten vor Ort, die extrem wichtig sind, nach ihrer Einschätzung gefragt werden. Und für alle Beteiligten gilt am Ende – und das muss man auch in der Berichterstattung klarmachen – dass keiner von denen, die da stehen, den kompletten Überblick hat. Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir über die aktuelle Berichterstattung hinaus dafür sorgen, dass die, die daran beteiligt sind, sich kontinuierlich auch außerhalb der Live-Berichterstattung austauschen. So wird wie bei Schwarmintelligenz am Ende das Bild objektiver.

In einem Interview für das Buch „Die Vorkämpfer“ der VOCER-Herausgeber sagten Sie mit Hinblick vor allem auf Korrespondenten, dass die Gefahr groß sei, sich mitreißen zu lassen.

Es war schon immer so, dass Journalisten vor Ort natürlich beeindruckt werden von der Situation und schnell der Meinungen sind, ihre Schlussfolgerungen seien das einzig Verbindliche zu einem Konflikt. Aber der Korrespondent sieht ja nur einen kleinen Ausschnitt. Der Trend, den wir über dieses Prinzip hinaus feststellen, ist erstens, dass heute schnell jemand in eine Region geschickt wird, ohne eine Ahnung vom Ort und dem großen Thema zu haben, und zweitens geht es immer häufiger um Emotionalisierung. Das ist der Passionate Journalism à la CNN: Journalisten, die mit den Opfern leiden und sich zum Advokaten machen. Das erzeugt eine unglaubliche Nähe zu den Opfern, was in der Medienkritik in Deutschland sogar noch goutiert wird: Guck mal, die sind ja viel näher dran als ARD und ZDF. Da wird mit Füßen getreten, was Hajo Friedrichs mal gesagt hat: dass man sich auch nicht mit einer guten Sache gemein machen sollte, sondern als Journalist die Distanz zu wahren hat.

Sind Experten mit journalistischem Hintergrund, die nur eine Einschätzung abgeben und nicht live vor Ort mit dabei sind, gefeit vor dieser Entwicklung?

Nein, auch Experten haben immer das Problem, dass sie dem Gegenstand ihrer Betrachtung zu nah kommen können. Das können zum Beispiel Behörden sein, so dass man unbewusst die Behördenlinie zu enthusiastisch vertritt. Es ist wichtig, sich immer bewusst zu sein, dass jeder ein Interesse daran hat, den Journalisten zum Werkzeug für seine Zwecke zu machen. So ein salopp gesagt trockenes Brötchen wie ich, der sehr sachlich, nüchtern und unempathisch die Dinge erklärt, ist möglicherweise gerade für eine Thematik wie den Terrorismus geeignet und kann verhindern, in seinen Auftritten als Experte Sorge oder Panik zu verbreiten.

Wenn der Journalist sich dieser Beeinflussung bewusst wird, sollte er versuchen, sie auszuschalten? Oder ist das ein Teil des neuen Journalismus?

Ja, das ist schon ein Trend, der viel mit dem sogenannten neuen Journalismus zu tun hat und mit einer Zeit, in der das Verbreiten von Befindlichkeiten neben Fakten immer mehr dazu gehört. Ich gehöre zur alten Schule, die diesen Trend für gefährlich halten und ihn ablehnen.

Sie sagten, in vielen Fällen sei der Experten-Titel nur ein Etikett. Sehen Sie hier ein Problem?

Ja, und zwar dass recht schnell der Eindruck erweckt werden kann, dass jemand diese Expertise auch wirklich hat. Dann wird möglicherweise nur nacherzählt, was man anderswo gelesen hat, oder was man sich selber zusammengereimt hat. Wer sich jedoch wie ich lange mit dem Terrorismus beschäftigt hat, der merkt auch, wie viel Expertise dahinter steckt, wenn andere sich zu diesem Thema äußern. Aber als Experte ist man so oder so nicht davor geschützt, mal einen Fehler zu machen. Das kommt bei Experten von Universitäten, Verbänden oder öffentlichen Einrichtungen genauso vor wie bei einem Experten, der innerhalb eines Fernsehsenders sitzt.

So wie Ihnen?

Mir ist das kürzlich passiert im Fall der Anschläge in Norwegen. Da befand ich mich allerdings auch in sehr guter Gesellschaft mit anderen Fachleuten und auch einigen selbsternannten Experten, zu denen ich mich aber nicht zählen würde, da ich seit mittlerweile zwanzig Jahren an dem Thema recherchiere und jeden Tag mehrere Stunden Arbeit da rein stecke. Zwanzig Jahre Arbeit schützen aber halt nicht vor Fehlern, das kann immer mal passieren.

Nach den Anschlägen in Norwegen im Juli war Ihre erste Einschätzung, es gebe einen islamistischen Hintergrund, was sich kurz darauf als falsch erwies. Lehrt uns so ein Fall, dass der Journalismus in Krisensituationen die Erwartung des Zuschauers einfach mal enttäuschen und sich mit der Berichterstattung zurückhalten muss?

Ich glaube, dass es wichtig ist, dass ein Medium alles Mögliche tut, um eine Expertise verfügbar zu haben, wenn eine Krise eintrifft. Wir können uns zwar nicht auf alle Krisen vorbereiten, aber es ist wichtig ist, dass man zumindest einen Grundstock hat, auf dem man aufbauen kann. Das ist meiner Meinung nach Aufgabe und auch Möglichkeit nicht nur der öffentlich-rechtlichen Medien, sondern auch der privaten. Das ist das eine. Und das Zweite ist die Demut, in bestimmten Situationen zu sagen: Ich weiß, dass ich nichts weiß. In Krisen muss es heutzutage besonders schnell gehen, und der Zuschauer oder User verlangt nach einer Einordnung, aber es ist manchmal notwendig, klar zu machen: Es liegen noch zu wenige Informationen vor, um eine abschließende Einschätzung vorzunehmen.

Im Fall Norwegen haben Sie genau das getan. Trotzdem wurden Sie und einige andere Experten im Nachhinein für Ihre Einschätzung kritisiert.

Die Erfahrung in dem Fall lehrt mich: Selbst wenn man diese Caveats, diese Vorsichtsklauseln, in einen Auftritt einbaut, werden sie überhört. Der Zuschauer bekommt den Eindruck, der Experte habe sich schon festgelegt. Wenn sich das herausstellt, er lag falsch, hat das einen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust zur Folge. Deswegen ist meine Lehre daraus – und das können wir uns allen nur empfehlen -, dass wir in Krisensituationen noch vorsichtiger sind und noch klarer formulieren, dass wir nur Einschätzungen abgeben können und nicht die absolute Wahrheit.

Wie ist da der Stand in Deutschland – halten sich hiesige Medien an solche Vorsichtsmaßnahmen?

Nehmen wir mal das Feld Terrorismus: Da fällt mir auf, dass zu wenig gemacht wird und Experten zu schnell zu Schlüssen gelangen. Es kommt zum Beispiel oft genug vor, dass nach einer Festnahme die Schlagzeile oder die Experteneinschätzung den Eindruck vermittelt, es hätte morgen schon der Anschlag erfolgen können. Beim ZDF sind wir da vorsichtiger, und aufgrund meiner Expertise bin ich in der Lage zu bremsen. Es gibt viele Fälle, in denen wir nachweislich zurückhaltender mit einer Nachricht umgegangen sind, weil wir eben wissen, dass wir da eine große Verantwortung haben und nicht den Eindruck erwecken sollten, Deutschland könnte jeden Tag der Anschlag à la 11. September passieren.

Wie reagieren Sie auf Kritiker, die nach Norwegen die Abschaffung der Experten forderten?

Es ist ein Kurzschluss zu fordern, dass vorhandene Expertise nicht mehr genutzt werden sollte, wenn ein paar Leute oder wie an dem Tag flächendeckend alle Medien mit ihrer Einschätzung falsch liegen. So zu tun, als wäre wegen einer Fehleinschätzung, zum Beispiel auch durch einen Finanzexperten, die Expertise dahinter null und nichtig – das ist purer Blödsinn. Zumal wenn die Empirie doch zeigt, dass man in 99 von 100 Fällen richtig gelegen hat. Für den Zuschauer ist das Expertentum meiner Meinung nach ein großer Mehrwert, wenn die Redaktion zum Beispiel jemanden hat, der eine panikmachende Berichterstattung aufgrund seiner Expertise verhindern kann, anstatt das fortzusetzen, was zum Beispiel die Zeitung mit den vier großen Buchstaben zum Thema schreibt. Mit der Forderung, Experten wegen einer Fehleinschätzung abzuschaffen, wird ein ebenso schnelles, kühnes Urteil gefällt, ohne zweimal darüber nachzudenken.

Fehler zu machen, finden Sie also nicht problematisch?

Es kommt immer mal wieder vor, dass sich Informationen als nicht akkurat herausstellen, nicht nur in meinem Bereich, dem Terrorismus. Ich würde es natürlich für sehr bedenklich halten, wenn ein ZDF-Experte über den Daumen gepeilt sagt: „Ja, das sind die schon“ und dann entsprechend berichtet. Wenn man aber erklärt, wie man zu dieser Einschätzung gekommen ist, finde ich das sehr in Ordnung, solange man einen etwaigen Fehler schnellstmöglich korrigiert.

Welche Schwachpunkte hat das Expertentum dann im Journalismus?

Ich glaube, dass wir diese scharfen, schnellen Urteile manchmal zu schnell fällen. Das meine ich flächendeckend – nicht nur für die Öffentlich-Rechtlichen. Wir sollten uns noch intensiver damit beschäftigen, was hinter einem Krisenthema steckt, sei es die Gaza-Flotille, bei der sich herausstellte, dass auch Terroristen an Bord waren, oder auch jetzt in der Eurokrise. Wir tendieren im Tagesgeschäft dazu, schnell Face Value zu nehmen, vielleicht auch den Spin von Politikeraussagen zu übernehmen, und uns weniger die Zeit nehmen, zu hinterfragen: Stimmt das denn jetzt überhaupt?

Also plädieren Sie für mehr Hintergrund-Recherche bei komplexen Themen?

Ja, gerade wir öffentlich-rechtlichen Medien könnten da aufgrund der Ressourcen, die wir zur Verfügung haben, noch eine viel wichtigere Rolle spielen, als wir das jetzt tun. Wir dürfen nicht einfach stehen lassen, was zum Beispiel in Pressekonferenzen behauptet wird, sondern müssen uns noch viel mehr Zeit nehmen zur Recherche.


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